5. Mai 2022

Johannes Gutenberg Universität Mainz JG/U in Kooperation mit dem Zentrum für interdisziplinäre Forensik (ZIF),

5. Mai 2022 TAGUNG : 10 JAHRE KÖLNER BESCHNEIDUNGSURTEIL :

Die Beschneidung (Brit Mila) aus jüdischer Sicht

Dr. phil. Hanna Rheinz, Dipl.Psych., M.A.

Für Ihre Einladung, einige Überlegungen zu diesem wichtigen Thema beitragen zu dürfen, bedanke ich mich bei den Organisatoren dieser Tagung, dem Zentrum für Interdisziplinäre Forensik der Johannes Gutenberg Universität, Mainz und vor allem Herrn Prof. Dr. iur. Dr. med. Hauke Brettel und Herrn Prof. Dr. iur. Jörg Scheinfeld.

Im folgenden möchte ich Ihnen hier in Mainz, einige Aspekte und Überlegungen zur Frage der Brit Mila, der Beschneidung nach jüdischer Tradition vorstellen und dies

1. in ihrem Kontext als zentrales Identifikationsmerkmal der jüdischen Identität und

2. hinsichtlich der Frage der Vereinbarkeit der Beschneidung mit der Kinderschutzgesetzgebung diskutieren.

Tradition und Aufklärung

Seit mehr als zweihundert Jahren haben sich Juden in Deutschland mit der Frage auseinander gesetzt, ob die Beschneidung, die jüdische Tradition der Brit Mila am achten Tag nach der Geburt eines männlichen Säuglings, mit der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft und ihren Werten vereinbar ist.

Bereits im Jahr 1843 trat eine Gruppe mit der Forderung zur Abschaffung der Beschneidung an die Öffentlichkeit. Darunter war Rabbiner Samuel Holdheim, der gemeinsam mit Ärzten – jüdischen ebenso wie christlichen – angesichts der hohen Komplikationsrate die Beschneidung (Brit Mila) als Risiko für die Gesundheit des Neugeborenen betrachtete. Der immer wieder dokumentierte Kindstod nach einer Beschneidung oder lebensbedrohliche Komplikationen, sorgten unter der Ärzteschaft für heftige Kritik an diesem Ritual. Rabbiner Holdheim setzte sich dafür ein, die Beschneidung abzuschaffen, da sie, wie er meinte, für Juden hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zum Judentum eigentlich überhaupt nicht verpflichtend sei.

Im Juli des Jahres 1871 versammelten sich deutsche Rabbiner und Gelehrte zur Zweiten Israelitischen Synode im Goldenen Saal des Rathauses der Freien Reichsstadt Augsburg, um dort Reformen des jüdischen Ritus und der Liturgie zu diskutieren. Eines der Themen war die Beschneidung.

Die Herren Dr. Fürst und Dr. Engel stellten den einstimmig angenommenen Antrag:

“Die Unterlassung der Beschneidung betreffend:

Indem die Synode der hochwichtigen Bedeutung der Circumcision als unbezweifelt voraussetzt, erklärt sie jedoch auf die ihr vorgelegte Frage: dass ein aus irgendeinem Grund unbeschnitten Gebliebener, von einer jüdischen Mutter geborene Knabe im Sinn der als bindend anerkannten Reformen als Jude anzusehen und in allen rituellen Beziehungen als solcher zu behandeln ist.”

Die von Rabbiner Samuel Holdheim geforderte Abschaffung des Beschneidungsritus aus medizinischen Gründen wurde allerdings nicht übernommen. Um zu illustrieren, wie umstritten Reformvorschläge hinsichtlich zentraler Inhalte der jüdischen Glaubenspraxis waren, hier das Urteil des renommierten Historikers Heinrich Graetz , der sich über die Reformvorschläge des Rabbiners Holdheim mit folgenden Worten äußerte:

“Seit der Antike” betonte der Historiker Graetz, “habe das Judentum keinen solchen inneren Feind erlebt.” Rabbiner Holdheims Vorschläge zur Abschaffung der Beschneidung wurden abgewiesen.

Die Rabbiner-Synode in Augsburg war sich bezüglich anderer Themen keineswegs so einig. Ihre Diskussionen über Feiertage und Ehegesetze erhitzten die Gemüter der Anwesenden so sehr, daß die Synode nicht bis zum Ende durchgeführt wurde, sondern wegen massiver Konflikte und Streitigkeiten zwischen den Teilnehmern vorzeitig abgebrochen werden mußte. Ein Skandal, der angesichts des Versammlungsorts, – der Ehre im Goldenen Saal des Rathauses von Augsburg tagen zu dürfen, hohe Wellen in ganz Europa schlug.

Trotz zahlreicher Meinungsverschiedenheiten und Konflikte gelang es den deutschen Rabbinern im 19. Jahrhundert zahlreiche Reformen auf den Weg zu bringen. Reformen, die nach 1945 und bis heute – nicht mehr denkbar wären.

Das jüdische Erbe: Zu Ehren archaischer Traditionen

Dies gilt auch in Bezug auf die Beschneidung.
Die Ausgangslage ist kompliziert: Das Ritual ist vor tausenden von Jahren entstanden und beruht auf einem Weltbild und einer Zeitvorstellung, die sich auf Narrative und Zeiträume bezieht, die noch weit vor jenen der Antike liegen. Der Anspruch, die Beschneidung in die jeweils gegenwärtige Zeit zu übernehmen, sie aus ihrem Ursprungszusammenhang heraus zu verstehen und Wort für Wort auszuführen, ohne je genaue, anatomisch und chirurgisch übertragbare Anweisungen erhalten zu haben, fördert Mißverständnisse. Dies beginnt bereits bei der Bestimmung des Zeitpunkts der Beschneidung: Welche Funktion hat der Zeitpunkt des Eingriffs, der “der achte Tag” nach der Geburt eines Sohnes, und warum muß es genau der achte Tag sein, an dem das Neugeborene Männliche einer Prüfung auf Leben und Tod ausgesetzt werden soll?

Die Schriften und Riten des Judentums beruhen auf einer Zeitvorstellung, die nicht mit der historischen Zeit identisch ist, sondern deren Bezugspunkt nichts weniger ist als die Ewigkeit. Die Riten werden als archaisch-unveränderbar präsentiert; sie ignorieren sowohl den kulturellen Wandel als auch medizinische und psychologische Entdeckungen und daran sich orientierende ethische Erwägungen, und beharren auf ihrer als unveränderlich präsentierten Verbindung zu einer archaisch spröden Welt, deren Aussagen als nicht hinterfragbare Wahrheiten behandelt werden. Nur durch diese Besonderheit habe, wie der Tora-Gelehrte Adin Steinsaltz betont, die Beschneidung ihre Gültigkeit behalten können.

Die Narrative der Tora werden zudem nicht als historische Berichte, sondern als wissensbasierte Handlungsanweisungen betrachtet, die zeit- und entwicklungsbedingte Veränderungen ausschließen. Sie können noch am ehesten mit den von dem Schweizer Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung beschriebenen “archetypischen Konstellationen” beschrieben werden.

Dies gilt auch für das Beschneidungs-Narrativ. Zur Kennzeichnung der Auserwähltheit des Volkes Israel und all seiner (hier: männlichen) Mitglieder, werden die Geschehnisse im Umfeld des Beschneidung allerdings auch als Inbegriff eines Traumas geschildert, gegründet auf der Wehrlosigkeit eines Kindes, das im Fall von Jizchak (Isaak), der als erster Sohn von seinem Vater Awraham beschnitten wurde, bereits älter als acht Tage und völlig arglos hinsichtlich des ihm zugedachten Eingriffs war. Diesem Fehlen jedweden Argwohns des Kindes Jizchak, steht die Absicht des Vaters gegenüber, seinen Sohn als Opfer darzubringen zu Ehren einer Allmacht, der er sich untergeordnet und verpflichtet fühlt. Daß der erste Beschnittene, der Sohn des Abraham wie in der Thora berichtet, bereits wesentlich älter als acht Tage war, und somit eigentlich nicht als Modell für die nachfolgenden Beschneidungen von acht Tage alten männlichen Säuglingen dienen kann, wird nicht hinterfragt.

Des weiteren wird diese erste Beschneidung im Rahmen und als Ersatz für eine Menschen- Opferung eingeführt.

Ein weiterer Hinweis ist unumgänglich: Das Ritual ist als Folge eines Mißverständnisses entstanden.

Eine Besonderheit, die oft übersehen wird: Die Beschneidung entstand als Lösung einer Situation der Akeda, der Bindung Isaaks an einen Opfer-Altar: Genesis (Bereschit) 22, 1-19.

Jizchaks Vater, der hochbetagte 99 Jahre alte Awraham, seine Mutter, die ebenfalls hochbetagte Sara, haben als kinderloses Paar trotz ihres hohen Lebensalters, ihren ersten und einzigen Sohn gezeugt, der von Sara geboren wurde. Diese, die Naturgesetze überwindende Geburt, bewegte den Vater dazu, Gtt ein Opfer darbringen zu wollen. Er begibt sich mit seinem Sohn Jizchak auf den Weg, ein Tieropfer darzubringen. Vater und Sohn wandern zum Berg Moriah und der Vater baut den Altar. Doch er hat kein Opfertier.

Also bindet er seinen Sohn Isaak an den Altar, um sein Versprechen, ein Opfer darzubringen, ausführen zu können.

Der Vater hat das Schlachtmesser bereits gegen seinen Sohn erhoben, das Opfer war – wie es heißt, “angenommen” worden, denn es erfüllte die Vorbedingung der Reinheit, als der Vater – nach der Schilderung des Zohar – von weinenden Engeln daran gehindert wurde, seinen Sohn zu schlachten.

Diese Szene ist ebenso erschütternd wie unverständlich: Die Opferung eines Kindes, das unter so ungewöhnlichen und wundersamen Bedingungen überhaupt erst zur Welt gebracht worden ist, erscheint unverständlich, sinnlos, ein Frevel.

Dennoch handelt es sich hier um das für die Beschneidung konstitutive Narrativ. Laut seiner Deutung, soll es den bedingungslosen Gehorsam von Awraham unter Beweis stellen.

Erst durch die Intervention anderer Mächte, die Mitgefühl und Erbarmen zeigen und den tödlichen Schlag verhindern, hält der Vater, der nicht als Vater, also das Leben des Sohnes schützend-, zu handeln bereit war, inne.

Sein Sohn Jitzchak, den er eben noch aus Gehorsam töten, genauer an Stelle eines Opfertieres schlachten wollte, überlebt.

Diese Szene, die gerade k e i n e väterliche Sorge zum Ausdruck bringt, gilt als das zentrale Narrativ, das zur Einführung des Beschneidungsrituals am achten Tag nach der Geburt eines jüdischen Sohnes herangezogen wird.

Da der Vater an der Opferung seines Sohnes gehindert wird, und sich daraufhin ein Widder zeigt, der in einem Gestrüpp hängen geblieben ist, wird nun dieser Widder als Opfertier definiert und tritt an die Stelle des Sohnes.

Das Ritual erscheint nun als Erinnerungsakt, mit dem die Bereitschaft Abrahams gewürdigt wird, anstelle eines Opfertiers, das er nicht hatte, seinen eigenen Sohn an den Altar zu binden und zu Ehren des Schöpfers zu schlachten.

Im Ritual der Beschneidung jedes acht Tage alten, von einer jüdischen Mutter geborenen Sohnes, soll an diese Gottestreue, diesen Gehorsam erinnert werden. Der Schnitt der Vorhaut wird als das symbolisch verdichtete Erinnerungszeichen dieses verhinderten Sohnesopfers eingesetzt.

Wir stehen hier vor einem archaischen Ritual, das viele Fragen offen läßt. Was sich jedoch deutlich herauskristallisiert, ist die Definition der Vaterschaft: sie erscheint hier als nachrangiger Wert angesichts des zentralen Themas des Gehorsams eines Menschen seinem Schöpfer gegenüber. Ein Begleitumstand, die einer sich auf verschiedenen Ebenen abbildenden Ohn-Macht gleich kommt und die nur mittels einer Handlung aufgelöst werden kann, in der einem Machtlosen noch mehr Ohnmacht zugewiesen wird, ja sogar die ultimative Ohnmächtigkeit, – am eigenen Leib als Opfer dargebracht und getötet zu werden -, um daraufhin – zum leblosen Opfer geworden -, einer höheren Macht dargebracht zu werden, so als sei er ein – wie wertvoll auch immer erachtetes – Stück Opferfleisch.

Ein Handlungsablauf, der dem Geschehen eine eigentümliche, sehr dunkle und tragische Bedeutung zuweist.

Gehorsam und Gesetzestreue gelten als konstitutive Elemente des Judentums; sie werden hier in ebenso berührender wie erschreckender Weise zum Ausdruck gebracht.

Elie Wiesel erkennt im Ritual der Beschneidung des acht Tage alten Sohnes, im Inneren des Judentums bereits die Umrisse der Shoah, eines Brandopfers aus Gehorsam, das ebenso wie dem Allmächtigen auch einem Unhold gegenüber hätte vollzogen werden können.

Auf einer weiteren Erzähl- und Bedeutungsebene wird das Übergangs-Narrativ vom Menschenopfer zum Tieropfer erkennbar:

Die Schlachtung des Widders, der sich im Gestrüpp verfangen hatte, gerät zur Ersatzhandlung für das Töten des Sohnes. An die Stelle der Sohnesopferung wird die Vorhaut beschnitten und als Opfer dargebracht.

In Bereschit 17:10 heißt es über Abraham, die Beschneidung des Abraham wäre mit dem Versprechen verbunden gewesen, er werde auf diese Weise tamim, d.h. unbeschädigt und vollkommen. Auch hier bleibt das Kind unbeachtet und unerhört.

Abraham wird aufgrund seiner Opferwilligkeit – bezogen auf seinen Sohn -, die Verheißung zuteil, seine Nachkommen würden so zahlreich sein wie die Sterne am Himmel – eine Verheißung, die an die bereits bekannte Bedingung geknüpft ist -, daß in diesem Volk alles Männliche am achten Tag nach der Geburt, beschnitten werde. Wiederholt wird hier und zwar jeweils unter der Bedingung und mittels dieses Beschneidungsrituals – die Gründung des Bundes von Haschem, dem Schöpfer -, mit dem Volk Israel in Erinnerung gerufen.

Im Text heißt es:

10 “Beschnitten werde bei euch jegliches Männliche. 11 Und ihr sollt beschnitten werden an eurem Gliede der Vorhaut. Und das sei zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. 12 Und acht Tage alt soll bei euch beschnitten werden jegliches Männliche für eure Geschlechter.”

Die Aussage bezieht sich auf ein von jedwedem individuellen Handlungszusammenhang losgelöstes, übergeordnetes Zeitmodell.

Der Subtext jedoch spricht eine andere Sprache: Es war ein Irrtum des Vaters zu meinen, seinen Sohn Jitzchak – an der Stelle eines Opfertieres – , töten zu müssen.

Des weiteren wird deutlich: Das Tieropfer kann nicht durch ein Menschenopfer ersetzt werden, selbst wenn das als Ersatz gewählte Opfer die Prüfung bestanden und als “rein” und das heißt als “geeignet zur Opferung” qualifiziert worden ist.

Mit anderen Worten: Der Vollzug des Opfer-Rituals mittels eines Widders wird gerade nicht als eine Ersatzhandlung für die Opferung des Menschen bewertet. Den Sohn aus Dank für den Erhalt eben dieses Sohnes zu opfern, aufgrund des gerade nicht vorhandenen Opfertieres, hätte die mit dem Opfer verbundene Intention zunichte gemacht. Die Geste, die mit der Rettung des Sohnes vor der Opferung verbunden ist, die Beschneidung der Vorhaut -, wäre somit-, so könnte man argumentieren, ebenso fragwürdig.

Kurzum: Die Geschehnisse im Umfeld des Opfer-Altars sind überaus vielschichtig. Vor allem jedoch: sie sind keineswegs eindeutig!

Daß sie mit dem Bund verknüpft sind, den der Schöpfer mit dem Volk Israel geschlossen hat, kann als die zentrale Aussage und somit als die älteste Identitäts-Zuschreibung und Identitäts-Realisierung von Am Jisroel, dem Volk Israel gelten.

Daß die Zugehörigkeit zum Volk Israel von jedem einzelnen geleistet werden muß, ist vergleichbar mit einer Bedingung, mit der eine Zugangsberechtigung aktiviert wird, von Generation zu Generation, von Familie zu Familie, von jedem einzelnen. Daß diese Zugangsbedingung auch pädagogische Ziele verfolgt, liegt auf der Hand: Die Mahnung, daß Rechte mit Bedingungen einher gehen und mit Auflagen verbunden sind, durch die der Status der Auserwähltheit verknüpft ist und vom einzelnen bewiesen werden muß.

Allerdings kann dies auch anders gelesen werden: Daß diese Auflage, das Gebot der Beschneidung jedes acht Tage alten männlichen Neugeborenen könnte auch als Bruch der Gerechtigkeit und Angemessenheit erscheinen: , die an anderen Stellen des Narrativs erscheint, um den Bund zu kennzeichnen. Eine Gerechtigkeit, von Mitgefühl (rachamim) geprägt, die der Schöpfer seinem Volk abverlangt. Die Beschneidung steht in gewisser Weise im Widerspruch zu den Geboten, etwa der Gerechtigkeit und des Mitgefühls, und des Verbots Leiden zu verursachen und zu zerstören. Der Widerspruch, die Traumatisierung, die Verwundung des Gefühls der Sicherheit und des Vertrauens im acht Tage alten männlichen Säugling kann nicht aufgelöst werden.

Ein zeitgenössisches Argument wird von Elie Wiesel angeführt, der eine Verbindung dieser Stelle (Bereshit 22, 1-19) mit der Shoah, dem Holocaust zu erkennen meinte und ihn als den Irrweg der Menschenopferung beschrieb, deren Wiederholung Wiesel im Holocaust erfuhr und erlitten hatte.

Das Ritual der Brit Mila als kollektives jüdisches Identitäts-Kennzeichen.

Durch die Bereitschaft des Vaters, den eigenen Sohn zu opfern – eine Entscheidung, die zwar als Irrtum überführt wurde und schließlich durch die Opferung nicht des Sohnes, sondern des Widders zurückgenommen wurde, jedoch sodann als Beweis des ultimativen Gehorsams bestätigt und belohnt wird, ist Opfern und Opferbereitschaft in das Zentrum des jüdischen Narrativs gerückt, wobei festzuhalten ist, daß das vom Vater gewählte “Opfer” nicht er selbst ist, sondern der Andere, und zwar der eigene Sohn.

Dies ist insofern bedeutsam, da – Jahrhunderte später, ein anderer Sohn sein Verlassen Worden Sein durch den Vater in Worte faßt und zwar als Klage äußert; die Rede ist von einem Juden, der ans Kreuz genagelt wird und seinen Vater anklagt, ihn verlassen zu haben, womit der Übergang zur zweiten monotheistischen Glaubensgemeinschaft, des späteren Christentums, vollzogen wäre.

Eine eher durch Zufall als durch Absicht gefundene und – durch Intervention anderer Mächte – wieder aufgegebene Opfergabe, eine trotz dieser Abwendung vollzogene und seither angeordnete Verstümmelung, die mit dem Irrtum eines Vaters begann, nicht an sich selbst, sondern an einem anderen, seinem Sohn -, wird somit – bis auf den heutigen Tag – zum Erkennungsmerkmal des masculinum hebraicum, des jüdischen Mannes.

Wie konfliktbehaftet dieses Ritual bleibt, wird an der Schilderung der verhinderten Opferung eines anderen Sohnes durch eine Beschneidung deutlich: Die Rede ist von der Beschneidung des Gerschom, Sohn des Moses und der Zippora.

Hier ist es Zippora, die Mutter, die die Vorhaut ihres Sohnes Gerschom mit einem Stein abschneidet, um die Opferung des Sohnes durch Moses gerade noch zu verhindern und den Hautfetzen sodann empört gegen die Beine von Moses schleudert.

Das Ritual der Beschneidung wird somit als vieldeutig und als Ersatzhandlung für eine archaische, an Menschenopfer erinnernde Handlung erkennbar, die über die Stufe des Tieropfers und der Symbolisierung eine andere Erfahrungswelt öffnet: Gesang und Gebet.

Das Beschneidungs-Narrativ verbindet den Einzelnen mit Erfahrungen, die neben all ihrem Grauen auch als Beginn einer Resilienz mittels Symbolisierung verstanden werden könnte.

Daß der Eintritt in den Bund Israels mit einem massiven Trauma beginnt, der Verwundung eines Neugeborenen Männlichen und der Veränderung des naturvermittelten Körpers durch eine Wunde, die sogar zum Tod des Neugeborenen führen kann, aber dennoch als conditio sine qua non für die Aufnahme nicht nur des einzelnen, sondern darüber hinaus des gesamten Volkes – in den Bund Israel erachtet wird, zeigt die dramatischen Folgen dieser Verknüpfung:

Jeder einzelne ist verantwortlich für das Schicksal aller anderen. Wer sich der Beschneidung entzieht, lädt die Schuld des Vertrags-und Wortbruchs nicht nur für sich selbst, sondern für das gesamte Volk Israel auf sich. Jeder einzelne wird somit mit-verantwortlich dafür, einen Vertragsbruch begangen zu haben, der das gesamte Volk betrifft; dies bedeutet auch, daß jeder einzelne Jude aufgefordert wird, an der Bestrafung des als abtrünnig erachteten Juden mittels Bannfluch mitzuwirken.

Aus heutiger Perspektive kann dies als geniale Konstruktion interpretiert werden, deren Ziel ist, Gehorsam zu erwirken. Deren Ziel außerdem sein könnte, Unverständnis und Mißverstehen zwischen den Geschlechtern zu bewirken, allen Zeiten und Orten, allen Gegebenheiten zum Trotz: Menschenleben geprägt von Gewalt, Vernichtung, Destruktivität. Und zwar von Generation zu Generation, -wirklich entlang eines gttlichen Willens? Eines Willens, der von Generation zu Generation als Herausforderung in Erscheinung tritt, und den Menschen, erworben oder erwählt, auf den Weg des Friedens oder den des Krieges leiten kann…?

Zwei Jüdische Stimmen zur Beschneidung

Der Philosoph Baruch Spinoza kritisierte die Beschneidung, weil Juden durch diesen Ritus den Zorn anderer Völker auf sich gezogen hätten.

Warum? Durch die Beschneidung seien die Grenzen von Männlich und Weiblich übertreten worden, die Juden hätten sich weiblicher gemacht und sich dadurch von allen anderen Völkern abgegrenzt. (In: Benedict Spinoza: “Politische Schriften”)

Der Philosoph sefardischer Abstammung wurde schließlich von seiner Gemeinde in Amsterdam durch einen Cherem, einen Bannfluch, für alle Zeiten aus der jüdischen Gemeinschaft verbannt, und erhielt somit die tödlichste für einen Juden vorstellbare Strafe.

Franz Kafka schildert in seinen Tagebüchern, wie ihm der Schrecken in die Glieder fuhr, als er einen Mohel (Beschneider) und Rabbiner sah, der sich mit blutigem Mund über einen männlichen Säugling beugte, und die Meziza be peh, das Absaugen des Blutes aus der Beschneidungs-Wunde ausführte. Kafkas Erschrecken ist nachvollziehbar. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß diese Szene auch andere Menschen erschreckt und verstört. Und irreführende Rückschlüsse zur Folge haben kann: Wer mit diesem Ritual nicht bekannt ist, kann eine solche Szene gar nicht aus ihrem Zusammenhang heraus verstehen und wird sie daher möglicherweise als aggressiven, ja mörderischen Vorgang deuten.

Die von einem Erwachsenen einem Säugling zugefügte, blutende Wunde bestimmt die Szene; ein Mann in rituellem Gewand beugt sich über einen Säugling und macht sich an ihm zu schaffen; Wenn der Kontext nicht bekannt ist – kann dies als Verbrechen, ja als Tötung und Mord eines Kindes mißverstanden werden. Eine solche von unkundigen Nicht-Juden beobachtete Szene, mag der im Laufe der Geschichte des Antisemitismus immer wieder aufgeflackerten Beschuldigung, Juden würden Säuglinge töten, um ihr Blut zu trinken, Auftrieb gegeben haben.

Der jüdisch-deutsche Mediziner Julius Preuss lieferte in seinem 1911 veröffentlichten Werk “Biblisch-Talmudische Medizin” ein sehr interessantes Argument gegen die Beschneidung in der heutigen Form; er betonte, daß die Technik der Brit mila, der Beschneidung unter medizinischen Aspekten weder in der Thora noch der Mischna und anderen Schriften je genau beschrieben worden wäre. Die Technik der Beschneidung sei erst im Laufe der Geschichte entwickelt und dokumentiert worden. Daher habe er Zweifel an der Bewertung der Beschneidung als zentrales Ritual anläßlich der Geburt eines Sohnes.

Eine Einstellung, die von den Reformen fordernden Teilnehmern während der Israelitischen Synode in Augsburg im Jahr 1871 und von Rabbiner Holdheim geteilt worden ist.

AUSERWÄHLTHEIT UND NARZIßMUS Die Konfrontation mit archaischen Ritualen ist befremdlich, sie erzeugt Angst und wird als Ausnahmesituation bewertet, selbst dann, wenn andere Aspekte des Beschneidungsrituals der Brith Mila im Vordergrund stehen, also die Gemeinschaft der Familie, die gegenseitige Vertrautheit, das Wohlwollen, und die Freude über die Geburt eines Sohnes. Diese Ambivalenz kann – bis zum heutigen Tag – als wichtige Begleiterscheinung von Beschneidungen gelten.

Die Beschneidung als Ritual ist – von ihren Wurzeln her betrachtet – befremdlich, doch zugleich vertraut, denn sie verbindet den einzelnen und oft auch ver- einzelten Juden mit dem Gründungsmythos des jüdischen Volkes, dem Eintritt in den Bund Israels, den Vertrag, den Gtt mit Awraham geschlossen hat; und bei jeder Geburt eines Sohnes wird diese Aufnahme in die Stammesgemeinschaft reinszeniert: im Kreis der Familie und der Gemeinde, vertreten durch den Mohel, den Beschneider, einen Rabbiner und den Sandek, einen Vereter der Familie, der den Säugling an den Mohel, der die Beschneidung ausführt, übergibt und damit den Bund Israels bezogen auf die Familiengemeinschaft ebenso wie auf die Stammesgemeinschaft bestätigt.

Loyalitätskonflikt und Redeverbot Wenn einzelne sich kritisch mit Traditionen auseinander setzen, die als unverzichtbar und unersetzbar bewertet werden, können Gemeinschaften auseinanderbrechen und Familien im Streit auseinander gehen. Nicht darüber reden wird geradezu überlebensnotwendig. Um Streit und andere Katastrophen in einer kleinen, relativ eng geknüpften Gemeinschaft zu verhindern, sind zahlreiche Abwehrhaltungen entstanden:

Ironische, dem Selbstschutz dienende Haltungen und Kommentare, eine veritable Sammlung zitierbarer Redewendungen und witziger, meist jedoch ironischer Bonmots. Das Geschehen und die unmittelbare emotionale Reaktion wird relativiert und in einen größeren Zusammenhang gestellt. Diese Menschenkette von erschütterten Eltern und deren Freunden und Verwandten, angesichts eines um sein Leben schreienden Säuglings, alle bemüht, ihre Fassung zu wahren und dies mit Würde und Esprit, zieht sich durch die gesamte Geschichte des Judentums.

Der mitleidige Blick gilt übrigens demjenigen, der Mitgefühl mit dem schreienden, blutigen Wesen hat! Die Gespräche davor und danach sind den beiden Polen – Rationalisierung und Bagatellisierung zuzuordnen.

Ambivalenz und Mitgefühl Rachamim (Mitgefühl) gilt als eine Tugend, die sowohl das Verhältnis zwischen Gtt und dem Menschen, als auch zwischen den Menschen untereinander kennzeichnen soll. Dessen ungeachtet ist der Schmerz, der durch die Beschneidung ausgelöst wird gerade nicht Ziel eines tätigen Mitgefühls. Wer am Gebot und dem herzzerreißend jammernden Säugling verzweifelt gehört nicht dazu und wird in die Schranken gewiesen. Wer in den Bund will, muß bluten, muß Opfer bringen: Das eigene Fleisch aus dem Körper geschnitten. Die Mütter wissen dies und beißen die Zähne zusammen. Es wundert nicht, daß viele Eltern im unausgesprochenen Gefühl leben, an ihren Söhnen etwas gutmachen zu müssen. Daß für viele die Beziehung zu ihrem Sohn fortan von Schuldgefühlen belastet sein wird, mitsamt der Palette, diese elegant zu zerstreuen und in andere Bahnen zu lenken, ist das Thema nicht zuletzt vieler Psychoanalysen. Der Sohn wird verwöhnt, und mit einer nicht immer förderlichen schuldgeplagten überaus engen Beziehung zur Mutter sein weiteres Leben hindurch begleitet.

Fest steht: Alle, die nach dem Erzvater Abraham kamen, mit dem der Beschneidungsritus begann, hatten keine Wahl. Wer dazugehören will, muß den Schnitt erdulden und dies an seinen Sohn weitergeben. Das ist die ungebrochene Linie der Generationen. Ein kulturelles Erbe, das bewahrt und verteidigt wird.

Sind Reformen überhaupt denkbar?

Kaum in der Welt außerhalb des Körpers seiner Mutter angekommen, im Alter von 8 Tagen, zwischen der 168sten und der 192sten Lebensstunde -, erlebt der kleine Mensch einen massiven Angriff auf sein eigenes Leben. Ohne zu wissen warum, wird ihn fortan möglicherweise das Gefühl der Angst, des Gerade-noch-einmal-Davongekommen-Seins, nicht mehr verlassen.

Daß der Schnitt ursprünglich gar nicht so radikal war, sondern erst in der Zeit des Hellenismus – als Folge einer Bestrafungsaktion (!) – zu einer kompletten und nicht zu verbergenden Vorhaut-Amputation wurde, ist nicht mehr im Bewußtsein.

Man könnte also die Forderung aufstellen, wenn schon nicht das gesamte Ritual aufgeben zu wollen, so doch mindestens zur ursprünglichen Variante zurück zu kehren; also eine minimale Beschneidung oder einen symbolischen Schnitt zu vollziehen; ein Ritzen der Haut, anstelle der heute üblichen radikalen Amputation der gesamten Vorhaut.

Doch statt eine symbolische Beschneidungsvariante in Erwägung zu ziehen, setzen sich zumeist `die Hardliner` durch. Dies fällt auch an der Beschneidung “aus gesundheitlichen, hygienischen und krankheitspräventiven Gründen” auf, die bis heute als Routine-Eingriff in den USA an neugeborenen männlichen Säuglingen vollzogen und von den amerikanischen Ärzten empfohlen wird (!)

Seit einigen Jahren scheinen die Zahlen der nicht-jüdischen beschnittenen Säuglinge rückläufig zu sein, was u.a. eine Folge des Wissenszuwachses hinsichtlich der Funktionen der Vorhaut, auch hinsichtlich der sensorischen Funktionen, Sensibilität und Lustfähigkeit ist.

Der Fluch der Auserwähltheit

Es gibt Dinge über die man sich wünscht, nicht nachdenken zu müssen.

Zum Beispiel:

* Alle Juden seien verstümmelt…

Oder

* Hochleistungen beruhen zu einem nicht geringen Grad auf Kompensationshandlungen …

Und dies trifft nicht nur für das männliche Geschlecht zu: Für Mädchen und Frauen gilt (im orthodoxen und ultra-orthodoxen Umfeld) die Verpflichtung zur rückhaltlosen Offenlegung des eigenen Körpers sobald sie verheiratet sind. Das Genital ist Objekt von Untersuchungen durch die Rabbiner. Genannt sei die minutiös beschriebene Prüfung der Sekret-Spuren auf weißen Baumwollunterhosen; also Methoden, die Fruchtbarkeit und den Zyklus-Stand, entlang der beiden Kategorien `rein` und `unrein`, die darüber entscheiden, wann die Ehefrau als geeignet für den Geschlechtsverkehr und dessen Ziel, die Befruchtung durch ihren Ehemann ist, und wann nicht. Denn während das männliche Geschlecht nach der Beschneidung “seine Ruhe hat”, gilt für heiratswillige und verheiratete orthodoxe Frauen die Variante endlose Geschichte: Die Vagina wird unentwegt auf den Prüfstand gestellt, begutachtet, kommentiert, bewertet, abgewiesen oder als zur Empfängnis bestimmt ihrem Ehemann frei gegeben.

“Auserwähltheit” erweist sich somit als fragwürdige Ehre. Sie kann zum Fluch werden, denn Auserwählt heißt auch: Auserwählt zum Schmerz, zum Seelentrauma und zur Neigung sich und anderen ständig etwas beweisen zu müssen. Zum Beispiel trotz all der Übergriffe und Forderungen, seine Sinne beisammen zu halten. Oder nach Auswegen zu suchen.

Grenz-Überschreitungen können unabsehbare Folgen haben. Der Historiker Sander L. Gilman untersuchte am Beispiel der Biographie von Sigmund Freud, der einen nahen Verwandten durch den tödlichen Ausgang einer Beschneidungskomplikation verlor, einige der Positionen und Haltungen, die im Zusammenhang mit der Fokussierung auf das Sexualorgan in der Theorie und in der Kasuistik der Freudschen Tiefenpsychologie entstanden sind. Unübersehbar, die Überwertigkeit der Sexualorgane.

Diese Überwertigkeit könne, so Gilman, mit einer frühkindlichen, beschneidungsbedingten Überempfindlichkeit und Traumatisierung zu tun gehabt haben.

Dazu gehören auch viele der psychoanalytischen Fallbeschreibungen, zum Beispiel, wenn sie auf dem Konstrukt des “Penisneides”, aufgebaut sind, das von Sigmund Freud als wesentliche Beschreibung der weiblichen Psyche – in die ohnehin eher frauenfeindliche Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts eingeführt worden ist.

Eigentlich überraschend, sogar paradox: Worauf soll das weibliche Geschlecht eigentlich neidisch sein? Der Penis wird ja gerade nicht als Einheit akzeptiert, sondern muß erst zurecht geschnitten werden, bevor er in der jüdischen Lebenswelt akzeptiert wird.

Er gilt zudem als unvollkommen. Erst nach der Entfernung der Vorhaut wird er geduldet. Daher überrascht Sigmund Freuds Annahme des Penisneids. Daß die Zirkumzision Bilder der Gewalt hervorrufen kann, liegt auch an einer weiteren Verknüpfung: ihrer Assoziation mit dem Urbild der Gewalt: der Schändung eines Menschen durch die Kastration.

Heute wissen wir, daß mit der Beschneidung gerade die am dichtesten mit Rezeptoren ausgestatteten Hautareale, also die empfindungsfähigsten Bereiche entfernt werden. Welche Motive sind beteiligt, so könnte man fragen, wenn ein Interesse daran besteht, die Empfindungsfähigkeit des tonangebenden Geschlechts der Menschheit, zu vermindern?

Der Psychoanalytiker Freud erscheint mit seiner Überbewertung des “Penisneides” und der zentralen Bindungsfigur des ödipalen Konflikts – heute auch als Seelenarzt, der seine eigene Traumatisierung nicht hatte erkennen können, und seine Patienten und Patientinnen als Wasserträger und Schach-Figuren seines eigenen Seelendramas behandelte. Eine Beobachtung, die auch für seine Anhänger und Anhängerinnen gilt.

Ausblick: Die Vertrautheit mit einem archaischen Ursprungsmythos und Ritual, bedeutet nicht, daß sich nicht viele Eltern ein schonenderes Ritual wünschen; etwa die symbolische Beschneidung des Brit Schalom Rituals. Hier geht es auch ohne Schnitt, oder wenn mit Schnitt, dann mit Zustimmung des aufgeklärten, zustimmenden, älter gewordenen Sohnes. Die Erkenntnisse der Psychologie hinsichtlich der seelischen und emotionalen Folgen der seelischen Frühtraumatisierung – , die sich in den folgenden Lebensphasen bemerkbar machen können, hat nicht nur in der Diaspora, sondern auch in Israel dazu geführt, daß viele Eltern ihren Söhnen in fortgeschrittenerem Lebensalter die Wahl selbst überlassen wollen. Angesichts des vom Gesetzgeber und der Öffentlichkeit gewünschten Kinderschutzes, sind Veränderungen unabwendbar.

Gibt es aus jüdischen Quellen ableitbare Argumente für eine Symbolische Beschneidung durch das Ritual BRIT SCHALOM?

Auch dem neugeborenen Menschen gegenüber gilt das zentrale Gebot der jüdischen Schriften (Thora, Talmud, Mischna):

Tza`ar baalei chayim – Das Verbot Schmerzen und Verletzungen zuzufügen. Es gilt nicht nur für Tiere, sondern für alle Lebewesen, auch für neugeborene wehrlose Menschen. Dies würde sich mit den Zielen eines allumfänglichen jüdischen Kinderschutzes decken.

Zum Schluß meiner Ausführungen will ich an die Worte des Rabbiners Lord Jonathan Sacks s.A. zu erinnern, der kurz vor seinem Tod (2020), erkannte: “Die Diaspora leidet unter Wunden, die sie sich selbst zufügt. Wir brauchen ein neues Judentum für das 21. Jahrhundert, das unser partikularistisches Erbe mit einer selbstbewußten Universalität verbindet.”

ANMERKUNG ZU EINEM AKTUELLEN THEMA:

Die Beschneidung ist ein wichtiges Thema. Glaubensgemeinschaften sind aufgefordert, ihre Rituale und Gewohnheiten hinsichtlich des Kinderschutzes zu überprüfen und zum Wohle des Kindes zu gestalten.

Ebenso relevant jedoch ist eine weitere Verletzung des Kinderschutzes, und zwar eine aktuell, erst wenige Jahre alte, massive, weltweite und mit weitgehendem Konsens der Wissenschaften, insbesondere der Medizin und der Psychologie sowie eines bestimmten Segments der Öffentlichkeit geduldete fundamentale Verletzung des Kinderschutzes, mittels einer weltweit geduldeten

AUSSETZUNG DES KINDERSCHUTZES um

“BESCHNEIDUNGEN” WELTWEIT ALS METHODEN DER EIGENEN GESCHLECHTSWAHL und des GESCHLCHTSWECHSELS VON KINDERN UND JUGENDLICHEN ZU ETABLIEREN, obwohl geschlechtsrollen bezogene Konflikte zu den normalen und bekannten Begleiterscheinungen der Pubertät und des Heranwachsens gehören.

So wichtig die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Fragen des Kinderschutzes im Rahmen von Religionsgemeinschaften ist, so wichtig ist es, die Rechte der Eltern, vor allem jedoch den Kinderschutz im säkulären Umfeld nicht zwischen einem bevormundenden Staat und eines von virtuell fantasierten Machbarkeiten blinden und berauschten gesellschaftlichen Diskurses und einer willigen Medizin zu opfern !

Mag der Philosoph Baruch Spinoza (Benedictus Espinoza) in der Beschneidung noch die Weggabelung hin zu einem dritten Geschlecht erahnt haben, in den letzten Jahren haben Vertreter /Innen einer selbst-ernannten politischen und intellektuellen Pseudo-Elite Hand in Hand mit einer Auswahl ebenso innovativer wie skrupelloser Mediziner Grenzen überschritten und Fakten geschaffen:

Eine Handvoll Intellektueller, Politiker und Mediziner haben in globalem Maßstab und fernab jedweder demokratischen öffentlichen Meinungsbildung forciert neue Entwicklungs- und Geschlechtsumwandlungs-Ideale geschaffen, die mittels virtueller Realitäten weltweit verbreitet und forciert werden.

Diese Abschaffung der Realität und der realen Geschlechtsunterschiede und Funktionen zum Schaden des Kinderschutzes kann man heute weltweit beobachten. Der Kinderschutz muß dringend auch auf diesen weltweit neuen und von virtuellen Realitäts-Fantasien befeuerten Mißbrauchsbereich ausgerichtet werden!

Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Judith Butlar, deren fragwürdige Theorien so viel Leid verursacht haben und weiterhin verursachen. Die erschütternden Folgen für Kinder und die Kindheit, kann man heute weltweit beobachten.

Wo einst Fantasien und Poesie sich entfalten durften, steht heute das medikamentös und chirurgisch umgesetzte und nicht mehr rückgängig zu machende Transgender-Hormon-und-Chirurgie-Operations-Reglement, das die Betroffenen lebenslang verstümmelt und psychisch behindert.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

VORTRAG gehalten an der JOHANNES-GUTENBERG UNIVERSITÄT MAINZ, ZIF-Tagung “10 JAHRE KÖLNER BESCHNEIDUNGS-URTEIL” 5. Mai 2022

Copyright: Dr. Hanna Rheinz, Dipl.-Psych., M.A.

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Zweiter Text zum Thema Jungenbeschneidung nach jüdischem Ritus: Mein Beschneidungs-Artikel anläßlich des Kölner Beschneidungs-Urteil aus dem Jahr 2012
Unverzichtbar und doch Albtraum
Beschneidung – das jüdische Dilemma?
  • Von Hanna Rheinz 
  • 23.07.2012 
  • Lesedauer: 5 Min.

Es war nur eine Frage der Zeit. Die Beschneidung – in einem Atemzug genannt mit der sozialen Evolution von Menschenopfer und Tieropfer, wird von einem Kölner Landgericht als »Körperverletzung« bezeichnet; die Religionsfreiheit muss sich dem Kindeswohl unterordnen.

Die Europäische Rabbinerkonferenz bezeichnet das Urteil nach wie vor als »schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust«. Die Existenz der jüdischen Gemeinschaft werde in Frage gestellt. Wer sein Kind nicht beschneiden lasse (am achten Tag oder bis zum 13. Lebensjahr) stelle sich, so der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, »außerhalb der jüdischen Gemeinschaft«.

Die jüdische Mitbürgerin kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. In den USA und Israel sind engagierte jüdische Eltern und Ärzte seit Jahrzehnten unterwegs, um die Brit Mila, die Beschneidung, durch das unblutige Brit Shalom-Ritual zu ersetzen. Den Bund mit Gott ins Fleisch schneiden lassen, einem unversehrten acht Tage alten Säugling eine Wunde beibringen, scheint als Identitätszeichen des Judentums (und des Islams, das ältere Jungen beschneidet) nicht mehr zeitgemäß. Erlaubt dies, das jüdische Leben ganz zur Disposition zu stellen?

Bis vor kurzem wurden der Entfernung der Vorhaut geradezu magische Qualitäten zugeschrieben: Hygiene, Verhinderung von Geschlechtskrankheiten, HIV, Blasenentzündungen und Gebärmutterhalskrebs bei Frauen, sexuelle Lust. Die Beschneidung ist Teil der jüdischen Identität und des kulturellen Gedächtnisses, ebenso wie der Schmerzensschrei des Säuglings: Um die Schmerzen zu lindern, schiebt der Mohel (er beschneidet) dem acht Tage alten Jungen ein mit Honig und Wein getränktes Tuch in den Mund, wodurch, wenn kein Schwips, so doch eine leichte Betäubung eintritt.

Die Langzeitstudien der Neuropsychologen und Traumaforscher sprechen eine andere Sprache: Bei 90 Prozent der ohne Narkose beschnittenen Säuglinge, deren Schmerzempfindung bis vor Kurzem geleugnet wurde, treten Verhaltensveränderungen, emotionale, psychische und vegetative Störungen auf: Ess- und Schlafstörungen, Ängstlichkeit, Bindungsprobleme.

Psychoanalytisch betrachtet, erscheint die Beziehungsdyade »jiddische Mamme – Sohn« als kulturell idealisierte Verarbeitung eines frühkindlichen Traumas: der Sohn bleibt ängstlich an die Mutter gebunden, die ihrerseits ihr unbewusstes Schuldgefühl durch Festklammern des Sohnes bis ins Erwachsenenalter hinein kompensiert.

Je sicherer ein Kind an Mutter und Vater gebunden ist, desto widerstandsfähiger ist es, desto angstfreier bewältigt es den »Schnitt« in das Grundvertrauen. Das Ohnmachts- und Schmerzerlebnis Beschneidung führt nicht zwangsläufig dazu, dass der Junge erkrankt oder labil wird. Dass die Eltern ihr Kind einem Fremden überlassen, der ihm – im Namen Gottes – Schmerzen zufügt, erschüttert allerdings das Vertrauen des Kindes. Doch die Psychoanalyse selbst ist von der traumabedingten Labilität ihres Gründers Sigmund Freud beeinflusst: als Kind wurde Freud Zeuge, wie sein Bruder Julius beschnitten wurde – und daran starb. Was für ein Volk, stöhnten schon die Griechen, das seine acht Tage alten Jungen verstümmeln und ohne Not die Vorhaut amputieren lasse!

Und doch führt kein Weg an der Beschneidung vorbei. Anders als die Schehita, das Schächten, ist die Brit Mila in der Tora detailliert beschrieben. Obwohl jüdische Eltern, Ärzte, Rabbiner und Bioethiker wie Ronald Goldman und David H. Gollaher sie als »Genitalverstümmelung«, als Verstoß gegen das hippokratische »Primum non nocere« – das Gebots, keinen Schaden zu verursachen – betrachten, wird die Forderung »Jews against Circumcision«, die Beschneidung auszusetzen, bis das Kind selbst mitentscheiden kann, ohne Folgen bleiben.

Es ist die Wunde, die den Eintritt in ein Leben ohne Ausgrenzung und Diskriminierung ermöglicht. Jüdische Zugehörigkeit wird über Schmerz definiert; dies mag als »archaisch« bezeichnet werden, doch für die Rabbiner und die Mehrheit der Juden bleibt die »Bris« unverzichtbar.

Die Erwartung, wissenschaftliche Erkenntnisse könnten die Macht des Wortes in der Tora aushebeln, ist naiv. Welten trennen die Vertreter der Politik, der Wissenschaft, der Rechte der Kinder. Ein Dialog zwischen ihnen und den Rabbinern ist nicht möglich. Ebenso wenig ein Kompromiss oder »Bewusstseinswandel«. Die Abschaffung der »Bris« ist undenkbar. Auch dies unterscheidet die Beschneidung vom Schächten. Im Fall der Tiere fordert die Tora die schonendst mögliche Methode – und öffnet Tür und Tor in die Zukunft mit ihren veränderten Techniken. Im Fall der Brit Mila ist von Schmerzfreiheit nie die Rede.

Im Gegenteil. Es scheint, als sei der Schmerz das Tor, das jeder Jude zu durchschreiten habe. Man mag dies »archaisch« oder »irrational« nennen, aber ebenso irrational ist die Erwartung, ein Gottessohn würde die Menschen retten oder die Wissenschaft könne verlässliche Wahrheiten produzieren.

Die Gefahr liegt woanders. Während in den USA und Israel niemand auf die Idee käme, besorgte Eltern als Nestbeschmutzer und Abtrünnige einzuschüchtern, wird der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland jedweder Dialog geradezu verboten. Von innen wie von außen – man denke nur an die deutschen Politiker, die erneut die Religionsfreiheit und den Ruf der Republik gefährdet sehen.

Im Schatten der Schoa zeichnet sich intellektuelle Erstarrung und eine Störung der Empathie ab. Wer als Jude in Deutschland anders denkt und argumentiert, wird unverzüglich sozial ausgegrenzt und totgeschwiegen. Oder womöglich einem Redeverbot unterstellt. Wer in der Folge Opfer von Schikanen wird, hat es sich selbst zuzuschreiben.

Unterdessen wird das Urteil von Köln längst als Signal an die Juden missverstanden, das Judentum aufzugeben oder das Land zu verlassen. Den kleinen Jungen berührt das noch nicht. Er wird auch in Zukunft schreien. Der Mohel wird ihn beschneiden. Vielleicht wird der eine oder andere eine Narkose wünschen oder das in Honig geschwenkte Tuch ein wenig länger in den Wein tauchen.

Die Autorin ist jüdische Publizistin, promovierte Psychologin, Kulturwissenschaftlerin, ehemalige Leiterin des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg.

Veröffentlicht im Neues Deutschland vom 23. 7. 2012