Fellini oder das (Un)Gute im Menschen

Hat eine “seit Geburt querschnittsgelähmte Katze” ein Recht auf Leben, oder – um es menschengerecht zu formulieren, hat die Katzenbesitzerin ein Recht darauf, das Einschläferungsansinnen des anordnenden Amtsveterinärs abzuweisen?

Eine knifflige, hochemotionale Frage. Eine entsprechende Petition ist auf den Weg gebracht worden.

Worum geht es hier? Die Bilder suggerieren eine gesunde Katze, die sich nur dadurch von ihren Artgenossen unterscheidet, daß sie eine Windel trägt – offenbar seit Geburt. Die Katze erreicht ihr drittes Lebensjahr. Sie sitzt aufrecht. Eine Behinderung und deren Folgen ist am Pressefoto nicht erkennbar. Auch die Besitzerin beteuert, daß ihre Katze “ein normales gutes Leben führt”. Die Kommentare der Petition gegen die Tötung der Katze bekräftigen ebenfalls, und zwar durch die überraschenderweise sehr zahlreichen BesitzerInnen behinderter Katzen in diesem Land, daß Behinderung die Lebensqualität der Katzen nicht beeinträchtigt und daher auf keinen Fall eine Einschläferung rechtfertigt.

Der ethisch argumentierende Mensch steht vor einer Herausforderung

1. die Lebensqualität der Katze und deren Umfeld zu beurteilen und

2. die Interessen des einzelnen und der Gemeinschaft bzw der Gruppe zu gewichten.

Doch wer ist hier der “einzelne”? Die Katze oder ihre Besitzerin?

Zunächst einmal bin ich überrascht, wie viele behinderte Katzen es in deutschen Haushalten gibt, die ohne Probleme leben und offenbar auch ohne, daß es zu Beeinträchtigungen der Lebensqualität kommt. Und was heißt “Beeinträchtigungen”? Dabei drängt sich zunächst die wichtigste Frage auf, wie wird “behinderte Katze” definiert? Ist die Diagnose “Behinderung” bzw Einschränkung bestimmter Funktionen etwa der Mobilität erst wirksam, wenn der Betreffende seinen Alltag ohne ein sorgendes und versorgendes Umfeld zu leben gezwungen ist?

Mit anderen Worten, wird die Behinderung erst mittels der sozialen Umstände, und zwar vor allem der Mißstände – “aktiviert”?

Jeder kennt das Foto des querschnittsgelähmten Familienhundes, der von Kindern auf einem kleinen selbst gebauten Pritschenkarren spazieren gefahren wird. Bei einer Lähmung der Hinterhand gelingt es dem Hund noch mit den Vorderpfoten den Wagen selbst in Bewegung zu halten.

Wer sich diese Szene ansieht, erkennt unzweifelhaft Lebensfreude. Die Vorbeigehenden bewundern die Tierliebe und Selbstlosigkeit der Menschheit, die Eltern freuen sich, daß sie ihren Kindern ein gutes Vorbild geben, der Hund freut sich ohnehin an seinem Leben. Wer eine schwere Krankheit hat freut sich über jeden gelebten Tag. Die veränderte Zeitperspektive ist jedoch eine individuelle Angelegenheit. Es gehört zu ihren Besonderheiten, daß es sich hier um eine individuelle Perspektive handelt. Ein einzelner kann sein Leben in Erwartung des Nicht-Lebens führen und entscheidet, daß es besser ist, das vertraute Leben mit seinen Höhen und Tiefen, den Schmerzen und der Depression zu führen als den Tod zu wählen, dessen Ausgang unbekannt ist und der daher nicht zwangsläufig eine Verbesserung eines noch so bescheidenen Lebens in Aussicht stellt.

Betrachten wir die Bindung, die Hunde, Katzen und andere Tiere zu ihren Menschen eingehen, erkennen wir, daß Tiere um ihrer Besitzer willen viele Kompromisse eingehen, die sie in Gemeinschaften mit Artgenossen niemals eingehen würden.

Könnte eine querschnittsgelähmte Katze als Welpe in einem Katzenverband überleben? Möglichweise. Wie lange -, ist eine andere Frage. Tiere, die sich ihre Nahrung selbst fangen und mit den Härten von Anfeindungen und Verfolgung leben müssen, sind dafür bekannt, daß sie unter ihrem Nachwuchs die überlebensfähigen, gesunden und kräftigen Tierjungen bevorzugen und kranke oft sogar aussetzen oder tot beißen. Grausam? Im Gegenteil: Dies kann als die wahre tierethische Leistung betrachtet werden, und zwar als Akt der Gnade dem kranken und nicht überlebensfähigen Tier gegenüber; ein Akt der Gnade, der verhindert, daß das betroffene Tier leidet und ausgegrenzt wird und auch seine Gemeinschaft leiden läßt, die es zwar lieben und umsorgen kann, aber das Entscheidende nicht kann: es länger und gesund am Leben erhalten.

Letzteres, also behinderte Tiere und Menschen über längere Zeit am Leben zu erhalten ist eine Errungenschaft der modernen Medizin, wobei zu beachten ist, daß der Zugang zu dieser Leistung abhängig ist von sozialen und finanziellen Faktoren, also ein Privileg und kein Recht darstellt. Unsere Gesellschaft hat die Behandlung auch todkranker Menschen zwar als kollektives Recht definiert, sich von diesem Ideal jedoch längst verabschiedet, indem sie die Medizin und ihre Leistungen als ein Wirtschaftsgut wie alle anderen umdefinierte und damit einen privilegierten Zugang festschrieb. Überleben und medizinische Überlebensmöglichkeiten nutzen darf nur, wer sich dies finanziell leisten kann. Dieser Grundsatz tritt in der Tiermedizin noch deutlicher zu Tage.

Man stelle sich einen Tierhalter vor, der nicht nur ein Tier, sondern mehrere hat und dessen Eigenleistungshorizont begrenzt ist: der Betreffende handelt unter den Begrenzungen seine überschaubaren materiellen und körperlichen Mittel. Er oder sie ist also in jeder Hinsicht leistungsschwach. Als überzeugter Tierschützer, um genauer zu sein, Tierrechtler wird mensch lieber Abstriche an der eigenen Lebensqualität hinnehmen als es den Tieren an etwas fehlen zu lassen. Natürlich fährt man nicht mehr in den Urlaub, hat den Verlust des Freundeskreises in Kauf genommen (die Mehrheit der Menschen ist eher nicht so gerne mit TierhalterInnen befreundet) und den beruflichen Abstieg hingenommen, der nach zahlreichen “Warnungen” massiv eintrat.

Nicht jeder hat nette Nachbarn oder Angestellte, die die Tiere nicht nur füttern, sondern auch Pflegearbeiten übernehmen wie Windeln wechseln und Kotabsonderungen in der gesamten Wohnung entfernen. Auch der Besitzer wird im Laufe der Jahre immer öfter an Grenzen stoßen. Vielleicht ist der Betreffende übergewichtig, oder hat Gelenkprobleme. Jedes Bücken tut weh. Wie oft muß man sich nach behinderten Mitbewohnern bücken? Wie kann man notwendige Medikamente eingeben, wenn man schlechte Augen hat und sich nicht leisten kann eine neue Brille in Auftrag zu geben oder die Augen lasern zu lassen?

Wie steht es um Tierhalter, die unter prekären Bedingungen leben? Es ist nicht bekannt, daß Tafeln Spezialfutter für kranke Tiere verschenken, die eine Grundversorgung auf Dauer sichern. Aufrufe, um kostenintensive Operationen an kranken Tieren zu finanzieren findet man eher selten. Heute sind andere Modelle des Tierschutzes en vogue. Zum Beispiel das Modell des Tierschutzes via Flugzeug und Finca in Spanien oder in der Türkei, um dort Streuner oder Schlachtpferde zur Resozialisierung in Deutschland zu sammeln. Überraschenderweise sind die Tiere meist recht jung – und wahnsinnig gut im Schuß oder sehen eben sehr, sehr erbärmlich aus. Wer schon einmal ein solches Tier spontan retten wollte, kann die Erfahrung machen, daß es längst in der Arche von dem netten Herrn Aufhäuser aus Österreich steht und demnächst im ZDF auftreten wird, wo es eine eigene Sendung hat.

Mit anderen Worten: Dies ist eine andere Perspektive! Die solo vor sich hinkämpfenden prekären Tierhalter sieht man nicht. Ein erkennbares öffentliches Interesse finden Tierhalter mitsamt ihrer Tiere ohnehin eher selten, es sei denn ein Tier-HOARDER soll abgekanzelt werden, damit der Öffentlichkeit endlich wieder einmal die Exzesse der Tierliebe am Horrorszenario der krankhaften obsessiven Tiersammler vor Augen geführt werden kann. De facto darf, nach Meinung vieler und daher auch vieler “sozialer” Medien -, heute ohnehin jeder Tierfreund erst einmal verdächtigt werden, ein gefährlicher, doofer, krankhafter, verrückter Tier-Messie zu sein. Man wird auf Schritt und Tritt dazu gebracht, entsprechende Unbedenklichkeitserklärungen abzugeben, und das eigene Engagement zurückzufahren. Nur so wird man geduldet, nur so gilt man als unbedenklich, vulgo Mittelmaß, im Grunde gleichgültig.

Warum rede ich hier ständig um den Brei herum? Es geht doch um die querschnittsgelähmte Katze! Und den grausamen Amtstierarzt, der sie zum Tod verurteilt hat

Stimmt! Bei Petitionen geht es meist um Einzelschicksale. Aber um ein Urteil zu finden bzw. es zu diskutieren, hilft es den Kontext zu betrachten: Das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft. Die Interessen des Einzelnen und die Interessen der Gemeinschaft. Oft liegen sie gar nicht so weit voneinander entfernt.

Im Fall der querschnittsgelähmten Katze wird erkennbar, daß es besondere Umstände sind, die ihr Überleben bis mindestens zum dritten Jahr bewirkt haben: sie lebte in privilegierten Verhältnissen. Die Katze hat das Glück eine ganz besondere Art der Tierhalter gefunden zu haben. Ihre größten Verbündeten sind die “sozialen” Medien, die eigentlich genau das Gegenteil sind, aber sehr geschickt so tun als seien sie immer auf der Seite der Unterdrückten und Opfer. Das ist heute so leicht, weil es eben nur um das Äußerliche, den Anschein, das So-Tun-als-Ob geht und nicht darum, was am Ende dabei raus kommt, wer am Ende die Zeche zahlt vulgo den Eimer holt, sich bückt und die Hinterlassenschaften aufwischt.

Zudem hat Fellini, die Katze, das Glück, daß sie sehr fotogen ist.

Man sieht ihr die Querschnittslähmung nicht an. Wie würde es aussehen, wenn sie nicht in einem Menschenhaushalt gepflegt werden würde? Wenn sie sich abgemagert und aus vielen offenen Wunden ungute Gerüche verbreitend, über dreckiges Straßenpflaster ziehen müßte? Wenn sie auf Schritt und Tritt Kot und Urin verlieren, wenn ihr Fell verfilzt und mit Parasiten bedeckt wäre?

Wir leben in einer Gesellschaft, die auf materielle Werte gegründet ist und die ihren eigenen Wert an äußerlichen, sich optisch präsentierenden Gütern mißt.

Gibt es einen größeren Luxus für relativ kleine Geldbeutel als den Luxus querschnittsgelähmten Haustieren helfen zu können und über “schonendes” Töten von Fleischlieferanten zu debattieren? Die mit den größeren Geldbeuteln treibt es weiterhin – mit stillschweigender Billigung der Öffentlichkeit, zur Großwildjagd. Anreise mit eigener Yacht und Privatjet. Für die Mehrheit der Menschen sind Anno 2020 Pflegeleistungen, – auf die Befindlichkeiten des einzelnen Rücksicht nehmende tätige Sorge, zum letzten realen Luxus avanciert: ein hohes, für viele unerreichbares Gut, auch wenn es um Menschen geht, alte, junge, kranke, gesunde. Menschen. Und Tiere.

Wir lernen gerade wie brüchig sorgende Begegnungen zwischen Menschen sind. Die Werte der Menschlichkeit haben, dies lernen wir aus den Veränderungen unserer Lebenswelten, ihr Verfallsdatum überschritten. Die jahrhundertelangen Kämpfe, derer es bedurfte um sie in den Gesellschaften zu veranken sind wie ein Nichts. All die Errungenschaften, die unseren Generationen in den Schoß gefallen sind! Sie sind nichts als ein Intermezzo. Wie ein Irrlicht, das kurz aufscheint, um rasch der Dunkelheit zu weichen: die Erfindung einer sensitiveren Gesellschaftsform. Wir dürfen sie nur noch bezeugen, jenes kurze Zeitintervall, in dem es sogar möglich war, mitten in der Corona-Phase-, das Überleben behinderter Haustiere zu fordern, mit dem Ziel, die gefühls-geleitete, rücksichtsvolle Handlungsoption als Tierschutz-Normfall deklarieren zu können.

Und genau dies ist der Schnitt- und Angelpunkt. In der Tat stellt es einen Fortschritt und damit einen Qualitätsgewinn an Wissen, Handlungskompetenz und ethischer Reflexionbefähigung und Finesse dar, diese Katze “Fellini” unter ihren derzeitigen Lebensbedingungen nicht per amtstierärztlicher Anordnung töten zu lassen.

Dem Amtstierarzt sollte man jedoch zugute halten, daß er im Regelfall die Erfahrung und Kenntnisse hat eine Prognose abzugeben, also zu beurteilen wie die Langzeitfolgen sowohl für dieses behinderte Tier als auch für andere behinderte Tiere und deren Besitzer geraten können. Unter diesen Bedingungen kann seine, vielleicht zu voreilige, vielleicht ohne eindeutige medizinische Indikation vulgo unter Maßgabe der Leidensverhinderung erfolgte Entscheidung , diese Katze als Gnadensakt zu töten, milder bewertet werden. Und zwar genau mit jenem Blick, den jeder für sich selbst üben sollte, dem Blick vom einzelnen hin auf die Gemeinschaft der anderen, für die hier neue gesetzlich wirksame Normen entworfen werden sollen, die für die Mehrheit der einzelnen jedoch eine deutliche Überforderung darstellen und sich daher als unrealistisch erweisen könnten oder eine Quelle von Ungerechtigkeit erzeugen können.

Ein Beispiel:

Zweimal Gassi Gehen per Tierschutzgesetz verordnen, bedeutet einem gebrechlichen Tierhalter mit Garten, den 10 Jahre alten Retriever wegnehmen und den alten Hund “zur Rettung” im (überfüllten) Tierheim unterbringen, wo er dann auf seine Vermittlung zu warten hat. Der Hund wird dort sterben, denn eine erfolgreiche Vermittlung auf Dauer ist unwahrscheinlich.

Wie im vorliegenden Fall der behinderten Katze wird der individuelle Fall und damit die besondere Bindung des Menschen an sein Tier ebenso wie die Bindung des Tieres an seinen Menschen -, vollkommen außer acht gelassen.

Wie das ausgehen kann, kann man auf YouTube Videos verfolgen: Zum Beispiel der als Tierschutznotfall deklarierte “Hausbesuch”, bei dem der Kontrolleur einer Tierschutzbehörde, einer älteren behinderten Frau im Rollstuhl erläutert, das Tierwohl ihres ebenso alten Hundes sei in Gefahr, und ihr dann – wohlmeinend und nur aus Sorge um den armen Hund, ihren Hund wegnimmt, da dieser von der Dame und ihrer Pflegekraft nicht jeden Tag “artgerecht” mehrere Male soundsoviele Kilometer spazieren geführt werden kann, wie dies laut Tierschutzgesetz und Lehrbuch vorgeschrieben sei. Die Pflegekraft gehe nur einmal spazieren und lasse den Hund ansonsten in den großen Garten gehen!

Eine andere Frage betrifft die der öffentlichen Vermittlung. Daß Entscheidungen immer unverblümter durch Darstellung & Präsentation bestimmt werden und dadurch manipulierbar werden, auf dem Foto oder per Video-Clip:

Hier sauber, aufgeräumt, “glücklich”. Das glückliche behinderte Tier.

Dort der Notfall von morgen: Das Tier, “leidend”, “krank”, verdreckt, gefährlich, skandalös!

Der Notfall, der hätte vermieden werden müssen!

Die Petition wird durch ein Ideal befeuert, das optisch unterstützt wird. Was sie nicht berichtet ist, daß es sich hier gerade nicht um den Normfall handelt, der vermutlich irgendwo zwischen Glück und Drama, Sauberkeit und Verwahrlosung, “artgerecht” und Alltagspraxis liegt, also absolut nicht attraktiv, nicht erstrebenswert und optisch so gar nicht spannend ist:

Eine Katze, deren Fell eher struppig ist, die nicht dankbar in die Kamera blickt und ihre Windel stoisch gerade hält, sondern eine, die Windeln nicht akzeptiert und sie im hohen Bogen von sich wirft, die sich lautstark beschwert, “undankbar” rumgreint und auf Schritt und Tritt diese und jene Partikel fallen läßt!

Mit anderen Worten:

Das wäre jetzt ein Grund unbedingt noch eine Petition auf den Weg zu bringen:

“Macht euch kein geschöntes Bild! Orientiert euch am gefühlten, erlittenen, meist optisch so gar nicht präsentablem Leben!”

Wer ist dafür? …. Wehe, wer nicht!

HANNA RHEINZ

Verwertungsgesellschaft WORT