Sigmund Freud und Erich Fromm
oder der westliche Weg den Ozean zu überqueren
Hanna Rheinz
Als Vortrag im Februar 2000 auf der Tagung der Evangelischen Akademie Baden in Bad Herrenalb zum Thema „Erich Fromm – Psychoanalyse, Ethik und Religion“ gehalten. Veröffentlicht unter „Zen und die Kunst der Erinnerung. Sigmund Freud und Erich Fromm oder der westliche Weg, den Ozean zu überqueren,” in: Fromm Forum (German edition), Tübingen (Selbstverlag), No. 6 (2002), S. 48-57.
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„Lasst mich das Geräusch einer einzelnen klat-schenden Hand hören!“ sagte der Zen-Meister zu seinen Schülern.
Uns stellt sich eine andere Frage: Ist Erinnerung vergangenes Hören oder zählt nur die Gegenwart der sinnlichen Erfahrung, allenfalls noch deren Echo und verwandelt die Erinnerung zu etwas Erfundenem, zur Illusion?
Der Zen-Koan lässt keinen Zweifel daran, dass nur die Gegenwart zählt. Die Erinnerung erscheint als Illusion. Der radikale Blick auf die sinnliche Erfahrung, ein Blick, der die inneren Vorstellungsbilder und Bewertungen über Bord geworfen hat, ist genau der Blick, den diese zen-buddhistische Meditationsanweisung vermitteln will. Wie fern scheint er jenem anderen Blick zu sein, der den Menschen des Westens vertrauter ist, ein Blick, auf dem der Schatten der Erinnerung liegt, der bis an den Rand gefüllt ist mit Ge-fühlen, Leidenschaften, blinden Passionen. Mit Werten wie Hass und Liebe, Reue und Schuld, Sehnsucht und Verbitterung.
Ein Blick, in dem sich Konflikte und Kriege spiegeln und der erst im Zustand der Ernüchterung die Leere findet, die dann freilich nicht die Leere ist, die der Zen-Buddhist meint. Jedenfalls ist das Gefäß des abendländischen Gedächtnisses nur selten klar oder vorurteilsfrei. Ebenso wenig die Wissenschaft der Er-innerung: Psychoanalyse, diese Archäologie der in Geheimschrift verfassten Gefühlskonflikte, de-ren Anhänger so heftig danach streben, wenigstens in ihrer analytischen Arbeit gefühls-abstinent zu sein. Keine Brücke scheint vom Gestern der Erin-nerung zum Jetzt der Erfahrung zu führen. Und doch sind, wie im folgenden zu zeigen sein wird, beide, Psychoanalyse und Zen-Buddhismus, Künste, zuweilen auch Kunstfertigkeiten der Er-innerung. Diesseits und jenseits eines Ozeans der verlorenen Spuren der Zeit, auf dessen Grund die Scherben der in die Brüche gegangenen Wel-ten liegen. Die ausgeleerten Gefäße des Gedächtnisses. Zum Schweigen gebracht, und doch abwartend hinein in die Stille eines spiegelglatten Meeres, so als vernehme der In-sich-Hineinhorchende, backbord und steuerbord, den herannahenden Sturm, der die sacht dahingleitende Fähre mit seinen unberechenbaren Fluten zerschmettern will. An Metaphern hat es dem abendländischen Menschen mit jüdisch-christlichen Verwurzelun-gen nicht gefehlt, Metaphern, die den Blick zurück auf die Vergangenheit leiten.
In einer Chassidischen Melodie, die Erich Fromm, der über ein großes Repertoire chassidischer Melodien verfügte, hin und wieder vor sich hin summte -,
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ist davon die Rede, dass die Welt einer Brücke gleiche, einer Brücke, die über die Zeit hinweg führt, von einem Ufer zu einem anderen. Und dass der Mensch seinen Weg über die Brücke als ungewiss und gefahrvoll erlebt. Auf diese Urängste, das Unbekannte zu überqueren (das bei Sigmund Freud überraschenderweise als ozeani-sches Gefühl auftaucht, das von rauschhafter, be-seligender, mütterlicher, geradezu vorgeburtli-cher Geborgenheit begleitet wird), beziehen sich die Worte dieser Chassidischen Weise: „Die Welt ist eine enge Brücke und es ist wichtig sie zu überqueren und keine Angst zu haben“. Denn wer am Anfang der Brücke steht, sieht nicht, wohin diese führt und eine große Furcht überfällt den Wanderer. Vielleicht will er sich an jenen Orten festklammern, die er bereits kennt, Orte, die hinter ihm liegen; er will keine neue Vergangenheit wagen, denn sie stellt ihn vor die Herausforderung des Überquerens (ge-nau dies ist mit dem hebräischen Begriff „awar“ gemeint). Wie viel einfacher dünkt es, die Ver-gangenheit als Ozean des Vergessens zu betrachten, in den es sich eintauchen lässt. Einfacher als der Sprung hinein in die ungewissen Gewässer des Lebens. Sigmund Freud und Erich Fromm „Ich wollte die Gesetze verstehen, die das Leben des Individuums und die Gesetze der Gesell-schaft – das heißt der Menschen in ihrem gesell-schaftlichen Dasein – beherrschen“, schreibt Erich Fromm 1967 in „Jenseits der Illusionen“. Wie anders dagegen Sigmund Freud, der die Gesetze des Unbewussten verstehen wollte und so die Kontrolle des bewussten Ich-Bereichs der Persön-lichkeit zu erweitern hoffte. Bei Erich Fromm je-doch entscheiden nicht die Libido-Entwicklung und deren phasenabhängige Fixierungen über Charakter und Geschick eines Menschen, son-dern die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse und Sozialisationserfahrungen des Einzelnen. Freud ebenso wie Fromm kämpften gegen die großen Illusionen der Menschheit, die sie im wunscherfüllenden Denken erkannten, in magi-schen Glaubensannahmen und der Suche nach äußeren Autoritäten, die blinden Gehorsam for-dern und damit die regressiven Neigungen des Menschen, seine frühkindlichen Wünschen nach Abhängigkeit und Unmündigkeit fördern. Der radikale Humanismus dieser beiden großen Denker zeigte sich auf verschiedenen Ebenen. Bei Freud, indem er durch Aufklärung die Autonomie des Menschen begründen half, bei Fromm, indem er den Menschen Instandset-zen wollte, nekrophile von biophilen Neigungen zu unterscheiden und ein autonomes und schöp-ferisches Subjekt zu werden, das die eigenen nekrophilen und destruktiven Haltungen (Fromm bezeichnete sie als „Rache des urgeleb-ten Lebens“) überwindet. Unterschiede zeigen sich auch im Gottesbild. Fromms Verständnis von Gott hat sich von dem des zürnenden Allvaters Freuds entfernt. Fromm wollte den Wert einer Religion daran messen, inwieweit sie persönliches Wachstum und Selbstverantwortung der Menschen förderte und sie mittels der in Gott versinnbildlichten Ge-rechtigkeit, Wahrheit und Liebe zur Entfaltung des eigenen Selbst und damit zu mehr Freiheit führte. Freud hingegen erkannte vor allem die Ab-hängigkeit erzeugenden, Schuldgefühle nährenden Aspekte der monotheistischen Religionen. Da er die Bedürfnisse des Menschen weitgehend als Triebbedürfnisse definierte, ließ er – anders als Fromm, eine Betrachtung des menschlichen Grundbedürfnisses nach Transzendenz und Spiri-tualität, das nur von der Suche nach mystisch-religiöser Liebe befriedigt werden kann, außer Acht. Doch während Freud trotz seines Atheismus unausgesprochen Religiosität zum Ausdruck bringt, etwa wenn er sich auf das vorsprachliche ozeanische Verschmelzungserleben beruft, wen-det sich Fromm nach intensivem Talmudstudium einer nichtwestlichen Spiritualität zu, dem Zen-Buddhismus. Und interessanterweise wurde Fromms humanistische Psychoanalyse damit zu einem Wegbereiter der New-Age-Bewegung. Jeder der beiden großen Seelenkenner und Seelenerkunder des 20. Jahrhunderts, die sich überraschenderweise nie persönlich begegnet sind, hat auf seine Weise – die Kluft zwischen den Wissenschaften und dem nach Lebens-Sinn suchenden Individuum zu überbrücken versucht. Die Popularität und leichte Lesbarkeit der Schriften Erich Fromms hat mit dazu beigetragen,
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ist davon die Rede, dass die Welt einer Brücke gleiche, einer Brücke, die über die Zeit hinweg führt, von einem Ufer zu einem anderen. Und dass der Mensch seinen Weg über die Brücke als ungewiss und gefahrvoll erlebt. Auf diese Ur-ängste, das Unbekannte zu überqueren (das bei Sigmund Freud überraschenderweise als ozeani-sches Gefühl auftaucht, das von rauschhafter, be-seligender, mütterlicher, geradezu vorgeburtli-cher Geborgenheit begleitet wird), beziehen sich die Worte dieser Chassidischen Weise: „Die Welt ist eine enge Brücke und es ist wichtig sie zu überqueren und keine Angst zu haben“. Denn wer am Anfang der Brücke steht, sieht nicht, wohin diese führt und eine große Furcht überfällt den Wanderer. Vielleicht will er sich an jenen Orten festklammern, die er bereits kennt, Orte, die hinter ihm liegen; er will keine neue Vergangenheit wagen, denn sie stellt ihn vor die Herausforderung des Überquerens (ge-nau dies ist mit dem hebräischen Begriff „awar“ gemeint). Wie viel einfacher dünkt es, die Ver-gangenheit als Ozean des Vergessens zu betrach-ten, in den es sich eintauchen lässt. Einfacher als der Sprung hinein in die ungewissen Gewässer des Lebens. Sigmund Freud und Erich Fromm „Ich wollte die Gesetze verstehen, die das Leben des Individuums und die Gesetze der Gesell-schaft – das heißt der Menschen in ihrem gesell-schaftlichen Dasein – beherrschen“, schreibt Erich Fromm 1967 in „Jenseits der Illusionen“. Wie anders dagegen Sigmund Freud, der die Gesetze des Unbewussten verstehen wollte und so die Kontrolle des bewussten Ich-Bereichs der Persön-lichkeit zu erweitern hoffte. Bei Erich Fromm je-doch entscheiden nicht die Libido-Entwicklung und deren phasenabhängige Fixierungen über Charakter und Geschick eines Menschen, son-dern die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse und Sozialisationserfahrungen des Einzelnen. Freud ebenso wie Fromm kämpften gegen die großen Illusionen der Menschheit, die sie im wunscherfüllenden Denken erkannten, in magi-schen Glaubensannahmen und der Suche nach äußeren Autoritäten, die blinden Gehorsam for-dern und damit die regressiven Neigungen des Menschen, seine frühkindlichen Wünschen nach Abhängigkeit und Unmündigkeit fördern. Der radikale Humanismus dieser beiden großen Denker zeigte sich auf verschiedenen Ebenen. Bei Freud, indem er durch Aufklärung die Autonomie des Menschen begründen half, bei Fromm, indem er den Menschen Instandset-zen wollte, nekrophile von biophilen Neigungen zu unterscheiden und ein autonomes und schöp-ferisches Subjekt zu werden, das die eigenen nekrophilen und destruktiven Haltungen (Fromm bezeichnete sie als „Rache des urgeleb-ten Lebens“) überwindet. Unterschiede zeigen sich auch im Gottesbild. Fromms Verständnis von Gott hat sich von dem des zürnenden Allvaters Freuds entfernt. Fromm wollte den Wert einer Religion daran messen, inwieweit sie persönliches Wachstum und Selbstverantwortung der Menschen förderte und sie mittels der in Gott versinnbildlichten Ge-rechtigkeit, Wahrheit und Liebe zur Entfaltung des eigenen Selbst und damit zu mehr Freiheit führte. Freud hingegen erkannte vor allem die Ab-hängigkeit erzeugenden, Schuldgefühle nähren-den Aspekte der monotheistischen Religionen. Da er die Bedürfnisse des Menschen weitgehend als Triebbedürfnisse definierte, ließ er – anders als Fromm, eine Betrachtung des menschlichen Grundbedürfnisses nach Transzendenz und Spiri-tualität, das nur von der Suche nach mystisch-religiöser Liebe befriedigt werden kann, außer Acht. Doch während Freud trotz seines Atheis-mus unausgesprochen Religiosität zum Ausdruck bringt, etwa wenn er sich auf das vorsprachliche ozeanische Verschmelzungserleben beruft, wen-det sich Fromm nach intensivem Talmudstudium einer nichtwestlichen Spiritualität zu, dem Zen-Buddhismus. Und interessanterweise wurde Fromms humanistische Psychoanalyse damit zu einem Wegbereiter der New-Age-Bewegung. Jeder der beiden großen Seelenkenner und Seelenerkunder des 20. Jahrhunderts, die sich überraschenderweise nie persönlich begegnet sind, hat auf seine Weise – die Kluft zwischen den Wissenschaften und dem nach Lebens-Sinn suchenden Individuum zu überbrücken versucht. Die Popularität und leichte Lesbarkeit der Schrif-ten Erich Fromms hat mit dazu beigetragen, die
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Psychoanalyse und das hier vermittelte Weltbild der seelischen Gesundung zu verbreiten, aller-dings auch zu trivialisieren. Ihre Zielsetzungen und Vorgehensweisen gehören heute zum all-gemeinen Gedankengut, und die Bergung der im Unbewussten versunkenen seelischen Konflikte mit dem Ziel, die Arbeits-, Genuss-, und Liebes-fähigkeit des Menschen wiederherzustellen, ist Bestandteil unzähliger medial zelebrierter Ent-hüllungen geworden. Erich Fromms Werk wurde dabei nicht sel-ten missverstanden, gerade von den Anhängern der New Age Bewegung, die Fromms Schriften begierig aufnahmen, fanden sie hier doch eine spirituelle Synthese, in deren Mittelpunkt der um Lebens-Sinn, Heilung, ja Selbsterlösung ringende Mensch steht. Ebenso populär wie Erich Fromm wurden die Philosophien und spirituellen Tech-niken des Orients, die seit dem letzten Jahrhun-dert zunehmend die Aufmerksamkeit der westli-chen Öffentlichkeit fanden, wobei Erich Fromm sich wie kein anderer um den Dialog zwischen den Kulturen bemühte. Anders als Sigmund Freud, der Zeit seines Lebens mystischen Prakti-ken gegenüber zwar interessiert, jedoch distan-ziert blieb, und sie nicht zum Gegenstand thera-peutischer Reflexionen machte, suchte Erich Fromm die Auseinandersetzung mit Vertretern mystischer Traditionen. Die Unterschiede zwischen Freud und Fromm sind von der psychoanalytischen Ge-meinschaft oft zu Lasten des letzteren betont worden. Anders als die Ethnopsychoanalyse ha-be sich Fromm mit seiner Öffnung für nicht-westliche spirituelle Traditionen und kulturelle Gedächtnisformen zu weit von den Grundlagen der orthodoxen Psychoanalyse entfernt, hieß es. Die psychoanalytische Gemeinschaft hat Fromm wohl nie verziehen, dass er am Ursprung von Freuds Psychoanalyse den „Geist des Kapita-lismus“ lokalisierte und mit seinen Veröffentli-chungen zur Liebe, die sich nicht ausschließlich als Sexualität manifestiert, die Triebtheorie über Bord geworfen hat. Auch der große Erfolg seiner Bücher, die den Lesern Einsicht in ihre Psyche ermöglichten, ohne sich der Mühen jahre-, oft jahrzehntelangen analytischen Durcharbeitens unterziehen zu müssen, mag zur ablehnenden Haltung beigetragen haben. Doch allen vordergründigen Unterschieden im Werk dieser beiden Pioniere der Psychoana-lyse zum Trotz können unausgesprochene Affini-täten festgestellt werden, die sich im besonderen aus der Auseinandersetzung und Verarbeitung des kulturellen Erbes des mitteleuropäischen Ju-dentums ergeben. Beiden gemeinsam ist es als kulturelles Gedächtnis, das jeder der beiden Denker auf seine Weise für sich nutzte. Und während beim einen, Sigmund Freud, die Ab-kehr vom strengen, Gehorsam fordernden Übervater dazu führt, eine nicht minder strenge Strukturierung des Seelenlebens einzuführen, auf die am Ende seines Lebens die Suche nach den im ozeanischen Gefühl versinnbildlichten mütter-lichen und spirituellen Regionen des Seelenle-bens folgt, begibt Erich Fromm sich auf den Pfad einer anderen Suche. Die Freud-Rezeption von Erich Fromm „Freud war der Gefangene der Gefühls- und Denkgewohnheiten seiner Gesellschaft, de-nen er nicht entrinnen konnte. Wenn Freud von einer neuen theoretischen Vision erfüllt wurde, so wurde sie – oder ihre Konsequen-zen – ihm nur teilweise bewusst, während ein Teil im Unbewussten blieb, weil er mit seinem ,Komplex’ und seinem früheren be-wussten Denken unvereinbar war. Sein be-wusstes Denken musste versuchen, Wider-sprüche und Unvereinbarkeiten zu verleug-nen, indem er Konstruktionen errichtete, die einleuchtend genug waren, die bewuss-ten Denkprozesse zu befriedigen.“ Zu diesem ernüchternden Schluss kommt Fromm in seiner Abhandlung „Sigmund Freuds Psycho-analyse – Größe und Grenzen“. Dass Fromm gemeinsam u. a. mit Karl Landauer 1929 in Frankfurt ein psychoanalytisches Institut gründe-te – hinderte ihn nicht daran, sich von der Trieb-theorie abzuwenden und die Psychoanalyse im Duktus des Marxismus als „bürgerliche Wissen-schaft“ zu bezeichnen, die einen verkürzten Beg-riff der Wirklichkeit vertrete, indem sie sexuelle Befriedigung und Konsumhaltung als via regia zur seelischen Gesundheit propagierte. Fromm beschrieb Freuds primäres For-
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schungs-Interesse, das aus seiner Zeit als Assistent am Institut von Brücke stammte, als er sich auf die Suche nach dem neurophysiologischen Kor-relat der Seele machte, um damit eine Theorie der menschlichen Leidenschaften zu begründen, als Kennzeichen des bürgerlichen Materialismus. Freud beanspruchte mit seinen Erkenntnis-sen, vor allem den „Grundpfeilern der Psycho-analyse“ Allgemeingültigkeit. Folglich bezeichne-te er sowohl die in der Triebtheorie aufgestellten Beobachtungen, als auch den Oedipus-Konflikt als universale Konstanten. Genau hier, kritisiert Fromm, habe Freud den kulturellen Faktor au-ßer Acht gelassen. Oedipus ist ein Held des anti-ken Griechenland und sein Leidensweg ist eben-so wenig wie der seiner unzähligen Nachfolger auf andere Kulturen übertragbar. In anderen Re-gionen, so Fromm, treten die großen Konflikte unter anderen Vorzeichen auf. Folglich sei es Freud mit seiner Beschrei-bung eines homo sexualis lediglich gelungen, ei-nen in westlichen Gesellschaften verbreiteten Menschentypus zu erfassen, und zwar einen von sich, seiner Arbeit und seinen Mitmenschen ent-fremdeten und isolierten Menschen, dessen Macht- und Besitzorientierung allenfalls den au-toritär-patriarchalischen Strukturen seines Um-feldes entsprachen, argumentierte Fromm. Diese kulturellen Scheuklappen des Sig-mund Freud minderten die beanspruchte Allge-meingültigkeit der psychoanalytischen Lehre. Dass Freud nach 1920 die mechanistische Libido-theorie zugunsten der biologisch-vitalistischen Theorie der Selbsterhaltungs- und Lebenstriebe aufgegeben hatte, änderte daran nichts. Fromm erhob noch einen weitaus gewichti-geren Einwand gegen Freud. Dieser habe näm-lich die Vielfalt der affektiven Bindungen des Menschen ignoriert und die lebenslange Suche des Menschen nach Zuneigung und Vertrauen, wie sie bereits in der primären Bindung des Kin-des an die Mutter zum Ausdruck komme, als se-xuell motiviert fehlgedeutet. Hand in Hand mit Freuds Widerruf der Verführungstheorie – er bezeichnete die Schilde-rungen von traumatisierenden Übergriffen, die Kindern widerfuhren, als Phantasien, ja sogar als Wunschbildungen – sei damit, zum Schaden von Generationen von Patienten, zum Schaden aber auch des kulturellen Diskurses, eine umfassende Sexualisierung sämtlicher affektiver Bindungen des Menschen angebahnt worden. Gerade durch Freuds Postulat, das Kind betrachte die Mutter als Sexualobjekt – und vice versa, sei es zu Fehl-entwicklungen gekommen. Ein Paradebeispiel für die unkritische Über-nahme eines kulturellen Vorurteils, das von Freud als seelische Konstante beschrieben wurde, ist seine Bewertung der weiblichen Sexualität samt dem hier angetroffenen vermeintlich uni-versell verbreiteten Erleben eines anatomischen und seelischen Defizits der Frau. Fromms Kritik, Freud habe hier seine „bürgerliche Vorstellung von der Liebe“ zum Ausdruck gebracht, indem er etwa die Rolle der Frau unter dem Blickwin-kel der Interessen des Mannes, Ehemanns und Vaters beschrieb, denen zufolge sie sich als unzu-länglich, mithin „narzisstisch“ gebärde, hat weit-reichende Folgen für den gesellschaftlichen Dis-kurs und die Debatten um Frauenwahlrecht und Gleichstellung der Frauen gehabt. Fromms Ein-wand, eine Frau, die sich den Allmachtswün-schen der Männer entziehe, dürfe nicht automa-tisch als „unfähig zu lieben“ disqualifiziert und pathologisiert werden, ist in den abgeschlossene-ren Zirkeln der psychoanalytischen Gemeinschaft gehört worden und hat überdies einer feministi-schen Psychoanalyse-Kritik den Weg geebnet. Angesichts der Bedeutung, die Fromm der Liebesfähigkeit zuwies, wird hier jedoch auch die Kluft deutlich, die sich zwischen Fromm und Freud auftat; die Tatsache, dass Freud einer Hälfte der Menschheit abspricht, zur reifen Liebe überhaupt befähigt zu sein, hat Fromm als be-sonders gewichtigen Einwand gegen Freud be-trachtet. Fromm schreibt 1972: „Im Gegensatz zu Freud sehe ich den Men-schen nicht als homme machine, getrieben vom chemisch bedingten Mechanismus Un-lust-Lust, sondern als ein primär auf andere bezogenes und ihrer bedürfendes Wesen, und dies nicht in erster Linie zum Zweck der gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung, son-dern aus Gründen, die in der ,Natur’ des Menschen liegen.“ Freud, der die Triebbefriedigung als zentrales Element der Begegnung von Mann und Frau verstand, vermochte die nicht auf sexueller Part-
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nerschaft und Familiengründung gerichteten Be-dürfnisse der Frau und des Mannes nicht zu er-kennen. Einwände erhob Fromm folglich auch ge-gen Freuds Begriff der „Objektliebe“. Nach Fromm handelt es sich hier um eine Auswirkung der bürgerlichen Orientierung an Besitzstand und Eigentum als Grundlage jedes ehelichen Lie-besverhältnisses. Diesem stellte Fromm die Überwindung des Haben-Wollens eines Objekts wie auch eines Liebespartners, entgegen: Erst durch den Verzicht darauf, den Partner besitzen zu wollen, so Fromm, werde der Mensch liebes-fähig. Dass die Liebe zur Mutter nicht sexueller Natur ist und unter dem Begriff Liebe eine Viel-zahl von Praktiken und Haltungen zusammenge-fasst werden, dies hervorzuheben kann als Ver-dienst Fromms betrachtet werden. Denn obzwar Fromm Freuds Annahme, die ödipale Bindung an die Mutter sei eine zentrale emotionale Kate-gorie der Kindheit, durchaus teilte, lehnte er es ab, die Beziehung zur Mutter als sexuelle zu be-greifen, denn „die Sehnsucht nach der Mutter ist einer der Wünsche, die in der Existenz des Men-schen selbst ihre Wurzel haben“. Fromm wirft Freud – meines Erachtens zu Recht – vor, die Reichweite der eigenen Entde-ckungen nicht ausgeschöpft zu haben, weil er auf Grund persönlicher Einengungen – Freud ist, seinen eigenen Forderungen zum Trotz, ja nie von einem Außenstehenden analysiert worden – vor wichtigen Schlussfolgerungen zurückschreck-te. Dies führte beispielsweise zum bereits er-wähnten Widerruf der Verführungstheorie. Einigkeit zwischen Freud und Fromm herrschte hinsichtlich der Bedeutung der Ver-drängung (bei Fromm „Dissoziation) und Subli-mierung hinsichtlich von Charakterbildung und Kultur. „Die bürgerliche Gesellschaft hat ein be-stimmtes Maß an sexueller Unterdrückung und Verzicht von Ansprüchen auf eigenes Glück überhaupt notwendig gemacht“, schreibt Fromm 1937. Gemeinsam ist ihnen auch die Abkehr von der abgeschlossenen Welt des orthodoxen Ju-dentums. An die Stelle des praktizierten Juden-tums trat freilich die nicht minder festgefügte und geradezu inzestuös abgekapselte Welt der Psychoanalyse, die nicht ohne Grund auch die „orthodoxe“ genannt wurde. An die Stelle die-ser hierarchisch-strukturierten Welt der orthodo-xen Psychoanalyse stellte Fromm schließlich die Welt eines offenen, universalistischen Humanis-mus, die auch den Orient und seine spirituellen Traditionen mit einschloss. Freud verlor die Bindung zu den nicht-rational erklärbaren Bereichen des Lebens freilich nicht. Dieser überaus puristische Verfechter der Wissenschaftlichkeit war abergläubisch und ord-nete sein Leben nach komplizierten Berechnun-gen; so versuchte er beispielsweise seinen Todes-zeitpunkt mit kabbalistischen Zahlenspekulatio-nen zu ermitteln. Von den Parawissenschaften und psychischen Phänomenen wie Telepathie, Präkognition oder Telekinese war Freud faszi-niert und nahm entgegen seiner wissenschaftli-chen Überzeugungen davon Abstand, sie pau-schal als Erzeugnis von Scharlatanerie zu ver-dammen. Die sich hier manifestierenden Wider-sprüche sind von Freud nicht reflektiert worden. Für Fromm hingegen erwies sich die Ausei-nandersetzung mit dem Buddhismus als eine Möglichkeit, sich in nicht-theistischer Weise mit seinem religiösen Erbe auseinander zu setzen und dem gesetzestreuen, jedoch abhängigen Menschen des orthodoxen Judentums das Ge-genbild des mündigen Bürgers der Aufklärung entgegenzusetzen, der, durchaus in der Tradition von Propheten wie Jesaja, Amos oder Hosea stehend, sein Seelenheil und soziales Verantwor-tungsgefühl nicht durch göttliche Weisung inner-halb einer partikularen Stammesreligion, son-dern aus einer universalen Ethik bezog. Ziel dieser Annäherungen an das mystische Erleben war es, die Ganzheit von Person, Mit-welt, Ich, dem Leben, ja der gesamten Welt er-fahrbar zu machen. Fromm erblickte hier eine Möglichkeit, die Vereinzelung des Menschen, den Zustand des Entfremdetseins aufzuheben und die eigene Individualität nicht mehr als ent-fremdet und vereinzelt zu erleben, sondern ge-tragen von einem Gefühl tiefen Zugehörigseins zu anderen Menschen. Anders die Motive, die Freud dazu beweg-ten, sein Interesse für die okkulten Phänomene des Seelenlebens lebenslang beizubehalten und sie nicht durch vorschnelle Rationalisierungen zu erklären. Einer der Gründe, warum Freud, der dem Ideal der Wissenschaftlichkeit geradezu hö-
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rig war, die Parawissenschaften nicht verdamm-te, war, dass er sie als Manifestation primär-prozesshaften Materials verstand, an dem er, seine Hypothesen bestätigend, beobachten konnte, wie sich die logischen Strukturen des se-kundär-prozesshaften Denkens auflösten. Ebenso wie Fromm sah sich auch Freud dem Geist der Aufklärung verpflichtet. Sigmund Freud sparte bekanntlich nicht an Kritik, um die Religion als Ergebnis von Zwangshandlungen ei-nes eingeengten, in einem obsessivem Zeremo-niell befangenen, von Schulderleben heimge-suchten Zwangscharakters darzustellen. Dies tat er 1907 in seiner Abhandlung „Zwangshandlungen und Religionsausübungen“. Und er wiederholte seine Thesen 1912 in der Schrift „Totem und Tabu“, einem Versuch, „Denkstrukturen der Vergangenheit mit Phäno-menen des Unbewussten, die noch in der Ge-genwart lebendig sind, zu einem Kreislauf des wechselseitigen Verstehens zusammen zu schlie-ßen und miteinander in Verbindung zu bringen“, wie Joachim Scharfenberg Freuds Unterfangen beschreibt. Das religiöse Handeln entzündet sich an Darstellungen des Vergangenen, der Inzest-Scheu und Tabu-Furcht, der Erkenntnis der Beseeltheit der Natur und der Verehrung von Machtwesen, die den eigenen Schutz sicherstellen. Die Ver-wurzelungen dieses magischen Weltbildes liegen im Boden der Frühgeschichte des Menschen, doch die Äste des Baumes reichen weit hinein bis in das Bewusstsein des Gegenwartsmenschen. Freuds Rationalismus knüpft hier an die von Hegel und Auguste Comte aufgestellte Trias Magie – Religion – Wissenschaft an, die sich in aufsteigender Folge des magischen Erbes entledi-gen will. Dem kindlichen Narzissmus gleich, der sich Totem-Tiere sucht, um sich selbst zu über-höhen, bleibt der Erwachsene im Allmachts-wunsch befangen: Er wird abhängig vom ideali-sierten übermächtigen Gott-Vater. Die Religion erscheint hier als Projektions-schirm infantiler Wünsche und Abhängigkeiten, als kollektive illusionäre Verkennung mit wahn-haften Zügen. Eine kollektive Zwangsneurose, vielleicht sogar Psychose. Die Kluft zwischen Vernunft und Wissenschaft, zwischen Aberglau-ben und Religion, magischem Denken und Zau-berei erscheint bei Freud als unüberbrückbar. Während Freud sich als „gottlosen Juden“ und Atheisten bezeichnete, ohne freilich das hier entstandene Vakuum mit neuer Spiritualität zu füllen, setzte sich Fromm mit dem religiösen Be-dürfnis der Menschen in nicht polemischer und nicht abwertender Weise auseinander. Folglich unterschied er zwischen irrationalen Ritualen, al-so Zwangshandlungen wie Wasch- oder Kon-trollzwang, und rationalen Ritualen, die Men-schen dazu bewegen, religiöse Praktiken zu pfle-gen, die zwar ebenfalls Wiederholungen und Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind, jedoch keinem pathologischen inneren oder äußeren Zwang folgen. Obwohl er auch die anthropomorphen Be-dürfnisse des Menschen, sich einen Gott nach ei-genem Ebenbild vorzustellen, anerkannte, be-vorzugte Fromm am Ende den buddhistischen Ansatz, in dessen Kern ein persönliches Gottes-bild fehlt (was letzteren freilich nicht daran hin-derte, in seiner Peripherie eine Vielzahl von Tier- und Menschengottheiten, wie sie in den asiati-schen Volksreligionen verbreitet sind, gelten zu lassen). Fromms weniger vorurteilsbehaftete und differenziertere Meinung, dass es ein elementa-res Bedürfnis des Menschen nach Religion gebe, kommt auch in seiner Würdigung der Symbol-sprache der Religion zum Ausdruck: Hier wür-den wichtige, während der Zivilisationsgeschich-te gewachsene Anliegen des Menschen zum Ausdruck gebracht, die sich andernorts auch in Träumen, Märchen und Mythen äußern. Gleichwohl unterscheidet auch Fromm zwi-schen religiösem Tun und einer pathologischen durch innere Zwänge und Unfreiheiten gekenn-zeichneten Gott- oder Sinnsuche. Damit nähert er sich Freuds Meinung an, dass Religionen im Dienst der kulturellen Triebverdrängung stehen und den Menschen von seinen ureigensten Be-dürfnissen entfremden, ihn automatenhaft, me-chanisch-maschinellen Abläufen ausliefern. „Die Zwangsneurose liefert ein halb komisches, halb-trauriges Bild einer Privatreligion“, bemerkt Freud. Fromm orientiert sich hingegen nicht an der Urheilserwartung des Zwangskranken, um den religiösen Impuls zu erklären, der als Verdrän-gungsleistung von sexuellen Triebregungen er-scheint, sondern am einzelnen Menschen, der
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eine Antwort auf die Unwägbarkeiten seiner Existenz sucht und der materiellen Lebensabsi-cherung eine spirituelle folgen lassen will. Zen und die Kunst der Erinnerung Buddhismus, Psychoanalyse und die Ethik des New Age Ein westlicher Anhänger des Buddhismus nannte auf meine Frage, welches denn die wichtigste Erkenntnis sei, die ihm die jahrelangen Zen-Sitzungen eingebracht hätten, folgenden Wahl-spruch: „Meditieren und Betrügen.“ Ich war ei-nigermaßen erstaunt über diese Kombination und fragte, wie diese Einstellung denn mit der auch vom Buddhismus geforderten ethischen Grundeinstellung des Respekts vor anderen und der Wahrhaftigkeit in Einklang gebracht werden könne. Daraufhin wies man mich mit einiger Überzeugungskraft darauf hin, dass nach Mei-nung vieler Zen-Meister eine hohe Stufe der Be-wusstheit einhergehe mit einem zuvor unvor-stellbaren Freiheitserleben. Dieser auf Bewusstseinsklarheit beruhende persönliche Freiheits-Gewinn bewirke, so der Zen-Anhänger, die Einstellung: Alles ist erlaubt. Meditieren ebenso wie Betrügen. Meditieren ebenso wie mit allen Mitteln um den eigenen Gewinn kämpfen. Wer sich selbst behindert durch mangelnde Erfolgsmotivation, zeige doch nur, dass er immer noch von Blockaden einge-engt werde, die je nach dem erreichten Grad des Bewusstseinstrainings abgebaut werden könnten. „Betrügen“, so lernte ich, wurde von mei-nem Gegenüber nicht als Folge krimineller Ener-gie bewertet, sondern als Freisetzung, als Strate-gie: der Zweck ebenso wie das Medium (hier der zur Erleuchtung strebende, sich von Illusio-nen, mentalen und materiellen Verhaftungen be-freiende menschliche Geist) heilige die Mittel. Kurzum, was eben noch als Charakterschwäche und mangelnde Ichstärke galt, erschien hier als Mut zur neuen persönlichen Freiheit des Zen-Menschen. Auf meinen Einwand, dies könne ja auch missbraucht werden, etwa durch den Umkehr-Schluss: Wer von den Zen-Lehrlingen viel be-trügt, befindet sich bereits auf höherer Erleuch-tungsstufe, erhielt ich die Auskunft, dass Betrü-gen auch als Dienst betrachtet werden müsse, als Dienst am Überleben und an der wirtschaftli-chen Absicherung, an dem sich nach Zen-Lehre eine hohe Bewusstseinsstufe offenbare. Inzwischen weiß ich, dass diese Einstellung nicht ungewöhnlich ist und sich vergleichbare Haltungen auch bei anderen Gruppierungen fin-den. Dazu gehört, dass Anhänger und Anhänge-rinnen der früheren Bhagwan-Sekte ihren Le-bensunterhalt durch Drogengeschäfte oder Pros-titution bestritten, ohne dies als Widerspruch zur Doktrin der Achtsamkeit zu erleben. Bezogen auf einen anderen Kontext ruft dieses Motto einen Spruch von Augustinus in Er-innerung, der – mögliche theologische Deutun-gen außer Acht lassend – zu Vergleichbarem auf-zurufen scheint, nämlich: „Liebe Gott und tu, was du willst.“ Damit stehen wir vor einem ethischen Kernproblem: Angesichts der Koppelung eines erwünschten Verhaltens wie Meditiere! Oder Liebe! mit einem unerwünschten oder verbote-nen „Betrüge“ oder „Tu, was du willst“ (ohne dich um andere oder um das Ganze zu küm-mern) ergibt sich ein ethisches Paradox, das von bestimmten Strategien zur Verhaltens- und Be-wusstseinsmodifikation noch forciert zu werden scheint. Bewusstseinstraining und Selbsterkennt-nis erscheinen als wertfrei – oder können zumin-dest so interpretiert werden. Die auf diesem Weg erreichte Freiheit er-scheint schrankenlos und macht auch nicht vor Verbrechen oder ethisch fragwürdigen Verhal-tensweisen wie Betrug oder Destruktivität Halt. Im Gegenteil, das unter Bewusstseinsklarheit stattfindende Verhalten wird mit der Metapher des „auf den Markt Gehens“ beschrieben, es wird dabei sogar idealisiert, und somit werden nach westlichem Verständnis ethisch problemati-sche Verhaltensweisen wie Prostitution oder Be-trug legitime Überlebens-Mittel, die für den ich-losen, bewusstseinsklaren Meisterschüler ledig-lich ein Bestandteil einer Welt der Illusionen ist, in der das Mittel möglicherweise durch den Zweck geheiligt wird. Am Rande sei vermerkt, dass Fromm seine mehrfach bekundete Absicht, sich in einer Veröf-fentlichung eingehend mit dem Buddhismus aus-einanderzusetzen, leider nicht verwirklicht hat. Aus diesem Grund und weil Fromms Idealisie-
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rung des Zen-Buddhismus vor allem auf der Be-gegnung mit charismatischen Persönlichkeiten wie Daisetz T. Suzuki und Nyanaponika Ma-hathera, einem zum Theravada-Buddhismus konvertierten deutschen Juden, beruht, der in Sri Lanka (Ceylon) lebte, fehlt eine kritische Be-trachtung dieser Heilslehren, deren Ideale der Ich-Losigkeit und Selbstüberwindung auch unter dem Aspekt des (pathologischen) Narzissmus be-trachtet werden können. Wer sich mit den An-hängern des New Age auseinandersetzt, vermag jedenfalls im Gewand vorgeblicher Selbstlosig-keit auch die Schattenseiten dieser Bewegung – etwa Egoismus und mangelnde Empathie – fest-zustellen. Mit Fromms Absichten sind diese Schatten-seiten der neuen Kulte, wie sie am Beispiel des „Meditieren und Betrügen“ dargestellt wurden, wohl schwerlich unter einen Hut zu bringen. Denn bei aller Bewunderung, die auch ich für den Zen-Buddhismus hege, gilt es doch, sich darüber im Klaren zu sein, dass östliche Prakti-ken nicht selten missbraucht werden und damit Tor und Tür öffnen für den kollektiven Narziss-mus des Personenkults, der Abhängigkeit, ja Hö-rigkeit von einem religiösen Führer, kurzum die Anbetung von Idolen fördern. Fromm hingegen suchte im Buddhismus ge-rade das Fehlen der Idole, des Götzenkults. Sein Interesse am Buddhismus entstand Mitte der Zwanziger Jahre, als er sich, angeregt von den Büchern des deutschen Buddhologen Georg GRIMM, von der jüdischen Orthodoxie und dem praktizierten Judentum zu lösen begann und von allem, was ihm sein Heidelberger Tal-mudlehrer Salman Baruch Rabinkow vermittelt hatte, den Humanismus auswählte. Was Fromm später am Buddhismus faszi-nierte, war, dass dieser ein nicht-theistisches Re-ligionssystem ist, das die Befreiung des Men-schen in dessen eigenes Vermögen legt und nicht auf eine äußere, höhere Macht verweist. Letzte-res Vorgehen entspricht ja Fromms Beschreibung der Religionen des autoritären Typus. Fromm schätzte am Zen-Buddhismus dessen radikale, anti-autoritäre Grundhaltung. In seiner Abhand-lung „Psychoanalyse und Religion“ (übersetzt nach der amerikanischen Ausgabe) bemerkt Fromm: „Buddha ist ein bedeutender Lehrer, ein Er-leuchteter, der die Wahrheiten der mensch-lichen Existenz begriffen hat. Er beruft sich nicht auf eine übernatürliche Macht, son-dern auf den Geist der Vernunft. Er fordert jeden Menschen auf, sich seiner Vernunft zu bedienen und die Wahrheit zu erkennen, die ihm als erstem zuteil geworden ist.“ Hier treffen wir auf eine bedeutsame Parallele zum psychoanalytischen Unterfangen: Die Wahrheit über das eigene Selbst (ebenso wie das eigene Karma) macht frei. Und niemand, so Fromm, habe dies in solcher Radikalität vertre-ten wie Buddha. Daher ist es nur nahehegend, dass Fromm Buddha auch die radikale Ableh-nung der „Haben-Haltung“ zugunsten der „Sein-Haltung“ zuschrieb. Den deutlichsten Ausdruck dieser radikalen Abkehr vom materiellen Besitz-stand zu einem neuen Sein und Bewusstsein fand diese Haltung in der Biographie Buddhas, von dem gesagt wird, er habe sich von seinem privi-legierten, von Luxus und Wohlhabenheit ge-kennzeichneten Leben losgesagt. Im Jahr 1940 traf Erich Fromm den japani-schen Zen-Buddhisten Daisetz T. Suzuki an der Columbia Universität in New York. Suzuki wur-de zu einem frühen Wegbereiter des Zen-Buddhismus in Europa. Die faschistischen Ver-wicklungen des Zen-Buddhismus (auch erklärlich aus dessen Indifferenz ethisch-sozialen und poli-tischen Fragen gegenüber) waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt bzw. wurden noch nicht problematisiert und in Verbindung zum zen-buddhistischen Ansatz des „wertfreien“ Subjektivismus gebracht. Möglichweise spiegelt sich in Fromms Be-reitwilligkeit, den Zen-Buddhismus für sich zu nutzen und dessen Meditationspraktiken, Denk-strategien und Atemtechniken zu übernehmen, die hier gespürte Nähe zur tätigen Religiosität, wie er sie einst im orthodoxen Judentum gefun-den hatte. Beide Religionen betonen ja die Be-deutung der unmittelbaren Erfahrung und Le-benspraxis vor jedweder Theoriebildung; beide Traditionen legen Wert auf das Tun zuunguns-ten des Theoretisierens. Die Erfahrungs- und Erlebens-Orientierung des Zen-Buddhismus hat Fromm nicht mehr los-gelassen und begleitete ihn in den darauffolgen-den Jahrzehnten. Ebenso seine Freundschaft mit
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Daisetz T. Suzuki (als dieser 1967 starb, charakte-risierte Fromm ihn in seinem Nachruf als geprägt von einer Fähigkeit zur kindlichen Freude, Her-zensgüte, zur Uneitelkeit und Liebe zum Leben). Vor dem Hintergrund dieser Freundschaft wollte Fromm in den späten fünfziger Jahren Suzuki sogar dazu bewegen, sich in der Nähe seines damaligen Wohnsitzes in Cuernavaca in Mexiko niederzulassen. Im Jahr 1957 organisierte Fromm hier den Kongress „Zen-Buddhismus und Psychoanalyse“, der Suzukis Ansatz würdigte. Im Kongressband vergleicht Fromm den Zen-Buddhismus mit der Psychoanalyse. Beide beruhten auf einem Menschenbild, das das Wohl des Menschen zum Ziel habe. Der Unterschied bestehe lediglich darin, dass die Psychoanalyse eine Wissenschaft, der Zen-Buddhismus jedoch eine Religion sei. Die Gemeinsamkeiten zwischen dem Zen-Buddhismus und anderen Religionen des Orients mit westlichen Glaubenssystemen bestehe darin, dass beide die Beschränkungen des ich-zentrierten Menschen überwinden wollten und dessen Befähigung zur Liebe, zur Demut (nicht zur Demütigung wie sie für autoritäre Religionen charakteristisch ist!) und zum Respekt vor dem Leben fördern wollten. Das Ziel des Lebens sei das Leben selbst und das Entwicklungsziel des Menschen, seine Natur zu erkennen. Für jeden Menschen liege diese Antwort woanders (dies entspricht auch dem talmudi-schen Denken. In einem Midrasch heißt es, Gott frage bei der Prüfung von Mosche nicht, ob er dieser oder jener Mensch geworden ist, sondern, ob er Mosche geworden ist). Als Vorteil des Buddhismus nannte Fromm, dass hier keine Projektion, also nach Außen-Verlagerung und Abtretung der Verantwortung auf eine äußere übermächtige göttliche Retterge-stalt stattfinde. Der Buddhismus erscheint hier zudem als psychologisch hoch-differenzierte Lehre der Schmerzüberwindung und Leidensvermeidung. Ziel ist, Kontrolle über die Emotionen zu erlan-gen, die als Verursacher der menschlichen Lei-denschaften und daher als Leiden gelten. Das Ideal der bewussten Lebensführung und Charak-terläuterung, das im Buddhismus vertreten wird, kam den psychoanalytischen Erkenntnismetho-den überraschend nahe. Der Buddhismus bietet jedoch mehr an als eine rationalistische Methode der Selbsterkenntnis, er legt die Veränderung, sprich Überwindung des Selbst in die Hände des Einzelnen. Insbesondere der Zen-Buddhismus arbeitet mit Elementen, die auch dem psychoanalytisch ausgebildeten Europäer nachvollziehbar sind. Zum Beispiel die Zertrümmerung von Sinn und Erschütterung von festgefügten Wahrnehmungs-strukturen: Sie weisen deutliche Ähnlichkeiten mit der Vorgehensweise der Surrealisten und Dadaisten auf, die die Zielsetzungen der Psycho-analyse radikalisierten. Das auf Sehen gerichtete buddhistische Denken setzt Wissen, Fühlen und Sehen gleich (hier drängt sich eine Parallele zur Schöpfungsge-schichte auf: da’at, also Wissen, bedeutet „er-kennen“, ebenso wie „sehen“ und „sexuellen Umgang haben“). Das auf Hören, Echo, Nachklang gerichtete westliche Denken findet in der Psychoanalyse im Werk des Theodor Reik seinen Ausdruck, der mit der Hypothese von sich Reden machte, dass die Seele nur erlauscht werden könne mit dem, wie Theodor Reik es nannte, „dritten Ohr“. Dai-setz T. Suzuki schreibt („Der westliche und der östliche Weg“): „Erleuchtung besteht darin, Einblick zu nehmen in den Sinn des Lebens als Wider-spiel vom relativem Ich zum absolutem Ich. Mit anderen Worten: Erleuchtung ist, das absolute Ich im relativen Ich gespiegelt und es durch jenes hindurch wirken zu sehen.“ Die zen-buddhistischen Wahrnehmungs- und Denkübungen, deren Ziel es war, auf versteiner-te Vergangenheit und erstarrte Erlebnisstrukturen beruhende Denkgewohnheiten und Argumenta-tionsweisen aufzubrechen, boten dem psycho-analytisch Geschulten ein alternatives Denkmo-dell. Die analytische und dabei zugleich syntheti-sierende Haltung des Zen-Buddhisten, der All-tagsgewohnheiten und eingefahrene Denkstrate-gien zertrümmert, um den Weg zur Unmittel-barkeit und zur sinnlichen Erfahrung frei zu ma-chen, war für Fromm auch deshalb so attraktiv, weil sie eine Weltanschauung ermöglichte, die Ethik einführte, ohne in anthropomorphistischer
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Weise eine persönliche Gottesvorstellung zu for-dern. Was Psychoanalytiker und Patienten sich mit der Methode der freien Assoziation und der Traumarbeit mühsam erarbeiteten, nämlich eine Öffnung für unbewusstes Material, anhand des-sen sich neue Sinnzusammenhänge herstellen lie-ßen, scheint in den zen-buddhistischen Meditati-ons- und Dialogtechniken längst zur Perfektion geführt worden zu sein – allerdings nach nicht minder umständlichen und zeitfordernden Vor-bereitungen. Die Zerschlagung der gewohn-heitsmäßig gebildeten Verkoppelungen von Sprache, Erfahrung und Realitätswahrnehmung gleicht in ihrer für den Zen-Buddhismus charak-teristischen Impulsivität der gewaltsamen Zer-schlagung des gordischen Knotens. Die Frage nach dem Ich ist zentral auch in jenem Denken, das sich wie das zen-buddhistische um die Auflösung der Ich-Struktur, mithin Ich- bzw. Selbstlosigkeit bemüht. In zahl-reichen Zen-Koans wird die Frage nach dem Ich oder der Personeinheit gestellt, oft mit überra-schenden sprachlichen Finessen (die wiederum durchaus an die Spitzfindigkeiten talmudischer Argumentationsweisen und an die verschränkten Deutungsstrukturen der Psychoanalyse erinnert). Von den folgenden Zen-Koans werden un-terschiedliche Sinneskanäle angesprochen. Ihr Ziel ist, die herkömmlichen Denk- und Wahr-nehmungsmuster aufzubrechen: Meister Hakuin stellte Novizen des Zen stets vor die gleiche Aufgabe: „Wenn man zwei Hände zusammenschlägt, entsteht ein Geräusch. Horch auf den Ton der einen Hand!“ Joshu Jushin (778-897) wurde von einem Mönchen gefragt: „Was ist mein Ich?“ Joshu: „Hast du deine Frühstücksgrütze ge-gessen?“ „Ja, ich bin fertig“ Joshu: „Dann wasch deine Schüssel.“ Ein anderer Mönche fragte Joshu: „Was ist mein Ich?“ Joshu antwortete: „Siehst du die Zypresse im Hof?“ Es mag nicht verwundern, dass auch andere Elemente bemerkenswerte strukturelle Ähnlich-keiten mit der Psychoanalyse aufweisen. Neben den Meditationssitzungen fällt die enge Bindung zwischen Schüler und Meister auf, die sich durch Fragen und Antworten (Mondo) aufeinander beziehen. Anders als mancher selbsternannte Guru appellierten die Zen-Meister im Sinne Kants – trotz der auch in Japan verbreiteten klös-terlichen Gehorsamkeitsübungen – an das eigene Denken ihrer Schüler, die ihre Vernunft gebrau-chen und nicht zu willenlosen, unselbständigen und unmündigen Dienern werden sollten. Dessen ungeachtet sollen die Sprachge-wohnheiten und logischen Strukturen des Alltags durch paradoxe Anweisungen aufgebrochen werden, deren Sinn und Berechtigung – Befehlen gleich – vom Schüler nicht diskutiert werden dür-fen: „Zeig mir dein ursprüngliches Gesicht, das du hast, bevor du geboren wurdest. Lasst mich das Geräusch einer einzelnen klatschenden Hand hören! Gebrauch den Spaten, den du in deinen lee-ren Händen hältst. Geh zu Fuß, indem du auf einem Esel rei-test. Sprich, ohne deine Zunge zu benutzen. Spiele deine saitenlosen Laute.“ Der Mensch, der sich solchen Fragen ausgesetzt sieht, ist auf sich selbst zurückgeworfen. An die Stelle des Offensichtlichen tritt eine Umkehr ver-trauter Annahmen. Eine neue Bewusstseinsin-stanz ist gefordert, die sich nicht mit dem Vor-dergründigen zufrieden gibt. Worauf wenig spä-ter vielleicht eine weitere Aufforderung seines Meisters auf ihn einbricht. Sie lautet: „Du musst nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch denken. Was meint dein Bauch dazu? Dreht er sich um?“ Nach Suzukl ist: „Zen seinem Wesen nach die Kunst, in die Natur seines Seins zu blicken, und es zeigt den Weg von der Knechtschaft zur Freiheit. Wir können sagen, dass Zen alle Energien
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freisetzt, die in jedem von uns richtig und natürlich aufgespeichert, aber unter norma-len Bedingungen verkrampft und verzerrt sind, so dass sie keinen angemessenen Kanal zur Betätigung finden […] Es ist deshalb das Ziel des Zen, uns davor zu bewahren, geis-teskrank und verkrüppelt zu werden.“ Sicher ist diese psychologisierende Definition des Zen unter den mönchischen Kollegen Suzukis in Japan auf Kritik gestoßen, doch wird rasch klar, warum er mit einer solchen Beschreibung das In-teresse Fromms und anderer humanistischer Psy-choanalytiker gewinnen musste, wenig später al-lerdings auch deren Vorbehalte, ja Argwohn zu spüren bekam. Fromm erklärte dies damit, dass Veränderungen lange Zeitspannen bedürfen und nicht im Hauruckverfahren übers Knie gebro-chen werden können. Die Zen-Praktiken erscheinen hier geradezu als psychohygienische Verfahren, einer Art seeli-scher Instant-Kur vergleichbar, welche die bereits als quälend und langatmig empfundenen Wort-kuren der Psychoanalyse abzukürzen verspra-chen. Dies spiegelt sich auch in Fromms Be-schreibung der Erleuchtung wieder, die bei ge-nauerem Besehen der Freudschen Vorstellung vom ozeanischen Gefühl nicht so fern ist: „Die Erleuchtung sei […] ein Zustand, in dem der Mensch mit der Wirklichkeit in sich und außerhalb seiner vollkommen überein-stimmt, ein Zustand, in dem er sich ihrer vollkommen bewusst ist und sie vollkom-men erfasst. Er ist sich ihrer bewusst – das heißt, weder sein Gehirn, noch irgend ein anderer Teil seines Organismus, sondern er, der ganze Mensch. Er ist sich ihrer bewusst, und zwar nicht als eines Objektes, das er mit seinem Denken erfasst, sondern ihrer, der Blume, des Hundes, des Menschen, in ihrer oder seiner vollen Realität. Wer er-wacht, ist für die Welt offen und aufnahme-fähig, und er kann offen und aufnahmefähig sein, weil er aufgehört hat, an sich als an ei-nem Ding festzuhalten, und weil er dadurch leer und aufnahmebereit geworden ist. Er-leuchtung bedeutet ,das volle Erwachsen des ganzen Menschen für die Wirklichkeit’.“ Und weiter heißt es: „Für die Wirklichkeit hellwach zu sein be-deutet, wieder in psychologischen Begriffen gesprochen, dass man eine vollkommen ,produktive Orientierung’ erlangt hat. Das heißt, dass man sich zur Welt nicht empfan-gend, ausbeutend, hamsternd oder hortend in Beziehung setzt, sondern schöpferisch und aktiv (im Sinne Spinozas).“ Dass Fromm hier die Unterschiede zwischen dem Zen-Buddhismus und der Psychoanalyse be-tont, die ja auch wie oben bereits erwähnt die Unterschiede von narzisstischem ozeanischem Gefühl und mystisch-religiöser Ichlosigkeit be-schreiben, kann nicht davon ablenken, dass bei-de ein ähnliches Menschenbild vertreten, und zwar das eines autonomen und freien Indivi-duums. Dies kulminiert in einer Feststellung, die vermutlich auch Freud beeindruckt hätte: „Das Zen will absolute Freiheit, selbst Freiheit von Gott.“ Und, so ist zu ergänzen, selbst Freiheit von Buddha, Freiheit von Dogmen und selbsternann-ten Gurus, von Religionslehrern und Freiheit jedweder institutionalisierter Religiosität. „Seid euer eignes Licht. Seid eure eigne Zuversicht. Haltet euch an die Wahrheit in euch selbst als das einzige Licht.“ In diesem Wort Buddhas kommt nicht nur die Freiheit des sich selbst su-chenden und erkennendes Subjekts, jenseits des Stroms (Samsara) der Täuschungen und Illusio-nen, die durch die Vergänglichkeit aller Dinge bedingt sind, zum Ausdruck, sondern zudem die Wandlung, die Fromm vollzogen hatte nach sei-ner Distanzierung von der Triebtheorie mit ih-rem Entwicklungsziel: „Wo Es war, soll Ich wer-den“. Die Gleichmut der Ist-heit, des „Ich bin, der ich bin“ steht in Einklang mit der Erkenntnis, dass alle zusammengesetzten Geschöpfe Leiden verbindet und Ichlosigkeit (dharma). Suzuki be-tont als Psychologe unter den Zen-Meistern zu-dem die multiplen Gesichter des Ich und der Per-son: „Aber das Ich ist etwas, das sich stets unse-rem Zugriff entzieht. Wenn wir glauben, es eingefangen zu haben, müssen wir erken-nen, dass es nicht mehr ist als die leere Haut einer Schlange, indes das wahre Ich irgend-wo sonst ist.“
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„Das Ich tritt nicht aus sich heraus, um sich zu sehen. Es bleibt in sich selbst und sieht sich gespiegelt in sich selbst.“ (aus: Der westliche und der östliche Weg) Doch allesamt bleiben sie Illusion. Ein Flug der Gedanken, die davonziehen und sich nicht ein-zunisten vermögen. Zum Wissen tritt das Sehen, ein Sehen von Gesichten, getragen von Intuition (Prajna), die in das Wesen der Menschen und Dinge hineinzublicken vermag. Betrachten wir den Entwicklungsgedanken des Zen-Buddhisten und erinnern uns an Freuds beharrlichen Kampf um die Kontrolle der Trie-be, dem Versuch, die hier gebundenen Beset-zungsenergien freizusetzen, die verdrängten Triebkonflikte aufzulösen. Dazu Suzuki: „Erst wenn das prajna-Auge (der Intuition) das Wesen aller Dinge durchdringt, entbin-det deren Ichlosigkeit positive konstruktive Energien, indem sich zunächst einmal die Wolkenschleier der Maya zerstreuen, indem alle Gerüste der Illusion zerstört werden und so schließlich eine Welt aus völlig neu-en Werten entsteht, die auf Weisheit und Liebe (karuna) beruht.“ Dem antidogmatischen Impuls, der Ablehnung religiöser Führer und stellvertretend für Gott wirkenden weltlichen Autoritäten gesellt sich noch ein weiterer Aspekt hinzu, den Fromm am Zen-Buddhismus fasziniert haben dürfte: die Nä-he zur jüdischen Mystik, dem Chassidismus, dem er sich lebenslang nah fühlte. Erinnern wir uns, sein wichtigster Lehrer Salman Baruch Rabinkow gehörte der Chabad-Bewegung an, einer Bewe-gung, die Fromm schätzte, weil sie im Unter-schied zum deutschen Reformjudentum, aber auch zur Neo-Orthodoxie den Versuch wagte, eine Reform von innen heraus mit Bezug auf die spirituellen Grundlagen des Judentums zu be-werkstelligen. Dazu gehörte auch die Betonung der einfachen, lebenszugewandten Frömmigkeit und die Wertschätzung des Alltags mit seinen Verrichtungen. Auch die Bedeutung der Lebensfreude, die Aufforderung zur unmittelbaren sinnlichen Er-fahrung und vor allem zur Liebe mochten Fromm zu Chabad gebracht haben; all dies Ei-genschaften, die er bei Daisetz T. Suzuki und Nyanaponika Mahathera wiederfand. All diese Menschen verkörpern ja auch diesen lebensbe-jahenden, das Wirkliche, Sinnliche zuungunsten des Jenseitigen betonenden Teil seines jüdischen Erbes, das beizubehalten Fromm in dieser indi-rekten Weise möglich war, denn er konnte es in Einklang bringen nicht nur mit dem für sich neu-entdeckten Zen-Buddhismus, sondern ebenso mit den Anliegen der humanistischen Psychoana-lyse. Dass er dabei die fundamentalistisch und poli-tisch reaktionären Kräfte von Chabad ebenso wie des Zen-Buddhismus unterschätzte und Cha-bad – dessen Kernaussage bezeichnenderweise die Liebe zum jüdischen Menschen ist – vorwie-gend unter dem Aspekt des Messianismus und der universalistischen Mystik zu sehen vermoch-te, sei nur nebenbei vermerkt. Nach jüdischer Tradition lag auf dem Tun stets ein größeres Gewicht als auf dem Theoreti-sieren, doch gelang es Fromm, diese Werte durch eine Neuformulierung in der psychothe-rapeutischen Sprache seiner Zeit zurückzuholen in die moderne Gesellschaft. Es sind die kleinen, unbemerkten Dinge, die den Humanismus, aber auch die Religiosität eines Menschen prägen. Um zu illustrieren, wie groß hier die Nähe zur zen-buddhistischen Fokussierung auf das All-tägliche war, sei die folgende Anekdote, die Fromm zugeschrieben wird, wiedergegeben: „Ein Mann fragt, warum er einen bestimm-ten Chassidischen Meister aufsuchen wolle. Wollte er den weisen Worten zuhören, die ihm zugeschrieben werden? Nein, antwor-tete dieser, nicht deswegen. Ich möchte nur sehen wie er sich seine Schuhsenkel zubin-det.“ Hier, in der Erkenntnis, dass sich im Unspektaku-lären die wahre Haltung eines Menschen zeigt, wird erneut die Nähe zu Freud offenkundig. Sie bezieht sich nicht nur auf Freuds Wertschätzung des Alltäglichen als Brücke zur Erkenntnis unbe-wusster Intentionen, sondern auch auf seine an-ti-autoritäre Grundhaltung: Die Kritik an Autori-tät und Autoritätshörigkeit hat Freud dazu be-wogen, den Glauben als Illusion eines nie ganz
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erwachsen gewordenen, in kindlicher Abhängig-keit verbliebenen Menschen zu bezeichnen, der weiterhin auf einen von oben helfenden und strafenden Gottvater hofft. Daher lag es nahe, die Überwindung von Autoritätsgläubigkeit und infantiler Abhängigkeit als Entwicklungsziel nicht zuletzt klinischer Psychoanalysen zu begreifen. Hier trifft sich die Freiheitlichkeit des Zen-Menschen mit jener des Patienten der orthodo-xen ebenso wie der humanistischen Psychoana-lyse. Fromm widmete, Freud nicht unähnlich, den mystischen Richtungen der Religionen seine besondere Beachtung. Im Unterschied zur auto-ritätsvermittelnden Religionszugehörigkeit, die der Gläubige hat wie er seine Taschenuhr hat oder seinen Aktenkoffer, oder wie er Gott zu haben glaubt, den er hin und wieder in Ge-schäftsdingen befragt, ist das Verhältnis des Mys-tikers ein inniges, denn er ist, was er glaubt, er lebt ein Sein in der mystisch-religiösen Erfahrung. Dem Sein der Gotteserfahrung steht demnach die institutionalisierte Religion gegenüber, die der Haben-Seite zugeschrieben wird. Differenzen freilich ergeben sich hinsichtlich des zum Verständnis östlicher Religionen so wichtigen Begriffs der Ich-Losigkeit sowie des von Freud erwähnten ozeanischen Gefühls. Freud bezeichnete die ozeanischen Gefühle als Quelle religiöser Inspirationen ebenso wie schöpferischer Energien. Fromm hingegen ver-glich diesen aufgelösten, entgrenzten Zustand des Ich mit den Allmachtsgefühlen der Narziss-ten. Fromm unterschied zwischen der narziss-tisch motivierten und einer genuin mystischen Erfahrung. Ersterer rechnete er das von Freud beschriebene ozeanische Gefühl zu, das nach Fromm einer Regression auf den primären Nar-zissmus eher gleiche als einer unio mystica. In diesem, und nicht im buddhistischen Sinne verstand er auch die Ich-Losigkeit als Begleiter-scheinung einer mit dem regressiven Zustand einhergehenden Ich-Schwäche. Sigmund Freuds Verständnis des Buddhis-mus hingegen war von seiner Todestrieb-Hypothese geprägt und damit zugleich begrenzt. So verglich er in „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) das Nirwana-Prinzip mit einer Herabset-zung, Konstanterhaltung und Aufhebung der in-neren Reizspannung. In „Das ökonomische Problem des Masochismus“ schreibt er: „Auf jeden Fall müssen wir inne werden, dass das dem Todestrieb zugehörige Nirwa-na-Prinzip im Lebewesen eine Modifikation erfahren hat, durch die es zum Lustprinzip wurde, und werden es von nun an vermei-den, die beiden Prinzipien für eines zu hal-ten […] das Nirwana-Prinzip drückt die Tendenz des Todestriebes aus, das Lustprin-zip vertritt den Anspruch der Libido und dessen Modifikation, das Realitätsprinzip, den Einfluss der Außenwelt.“ Auch im „Abriß der Psychoanalyse“ (1953) ver-tritt er diese Auffassung und vergleicht das Nir-wana-Prinzip erneut mit dem unter dem Diktat des Es stehenden Lustprinzips, das von ihm „mit despotischer Gewalt beherrscht werde: „Das Es gehorcht dem unerbittlichen Lust-prinzip. […] Die Erwägung, dass das Lust-prinzip eine Herabsetzung, im Grund viel-leicht ein Erlöschen der Bedürfnisspannun-gen (Nirwana) verlangt, führt zu noch nicht gewürdigten Beziehungen des Lustprinzips zu den beiden Urkräften, Eros und Todes-trieb.“ Ob Freud und Fromm sich wirklich so fern stan-den wie sich dies vordergründig darstellt, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Die nicht-analysierten Bereiche in Freuds Leben und Werk nahmen in seinen fortgeschrittenen Lebensjahren eher zu als ab, und dazu gehörte vor allem der Bereich des „ozeanischen Gefühls“, das zur Er-klärung tiefer, präverbaler affektiver Bindungen (etwa der unvernünftigen, nicht unter einem Triebdiktat stehenden oder sonst wie nutzbrin-genden Liebe zum Tier), aber eben auch zur Er-klärung mystischer Neigungen herangezogen wurde. Die Struktur der psychoanalytischen Me-thode weist nicht nur Ähnlichkeiten mit der In-terpretationsweise des Talmud auf, wie Emanuel Levinas plausibel nachwies, sondern auch mit der Struktur des Erleuchtungs(Satori)-Erlebens und der Erkenntnisformen meditativer Erfahrun-gen. Unausgesprochenes kommt in diesem von der Deutung ausgenommenen unbewussten Ma-
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terial zum Ausdruck. Dass Freud sich darüber im klaren war, den eingeschlagenen Weg nicht ganz bis zum Ende gegangen zu sein, sondern ihn vor einer wichtigen Abzweigung abgebrochen zu haben, machte er nicht nur in seinen Stellung-nahmen zu paranormalen Phänomen, etwa C. G. Jung gegenüber, deutlich, sondern auch be-zogen auf die östlichen Heilslehren und die emotionalen Quellen mystischen Erlebens. In ei-nem Brief an Romain Rolland bezieht er sich auf dessen Meinung, „die eigentliche Quelle der Re-ligiosität nicht gewürdigt“ zu haben. Freud er-widerte am 5. Dezember 1927, damit meine er das „ozeanische Gefühl“, das unter einem müt-terlichen Aspekt auftauche und dessen Anwe-senheit er religiös nenne. Persönlich jedoch schränkt er dies ein und fügt ein überraschendes Geständnis hinzu: „Auch wenn man jeden Glauben und jede Illusion ablehne […] Ich selbst kann dies ,ozeanische’ Gefühl nicht in mir entdecken. Es ist nicht bequem, Gefühle wissenschaft-lich zu bearbeiten. Man kann versuchen, ih-re physiologischen Anzeichen zu beschrei-ben. Wo dies nicht angeht, – ich fürchte auch das ozeanische Gefühl wird sich einer solchen Charakteristik entziehen, – bleibt doch nichts übrig, als sich an den Vorstel-lungsinhalt zu halten, der sich assoziativ am ehesten zu diesem Gefühl gesellt. Habe ich meinen Freund richtig verstanden, so meint er dasselbe, was ein origineller und ziemlich absonderlicher Dichter seinem Helden als Trost vor dem freigewählten Tod mitgibt: ,Aus dieser Welt können wir nicht fallen.’ Also ein Gefühl der unauflösbaren Verbun-denheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt.“ (Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, S. 422) Dieses Gefühl also bringt Freud mit den mysti-schen Erlebensweisen in Zusammenhang, die auch während der Yoga-Praktiken entstehen und eine Abwendung von der Außenwelt zur Folge haben, Erlebensweisen, die zu teilen Freud selbst sich jedoch außerstande sieht. Nebenbei be-merkt: Wenige Jahre später wird Freud in eu-phorischen Worten beschreiben, wie er von die-sem ozeanischen Gefühl ergriffen wird, und zwar als Begleiterscheinung seines Umgangs mit seinem Lieblings-Chow-Chow Jofi! Während des Treffens zwischen Romain Rolland und Freud am 14. Mai 1924 überreichte Freud ihm ein Exemplar seiner „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“. Freud bat ihn im Gegenzug um eine Ausgabe seines Werkes „Mahatma Gandhi“, in dem Romain Rolland sein Interesse für Indien darlegte. Denn interes-santerweise beruht der Begriff „ozeanisches Ge-fühl“ auf einer Vorstellung, die auch im Hindu-ismus verbreitet ist. Auch hier wird das Bild des Ozeans verwendet, wobei die Berührung des Menschen mit dem Göttlichen als Ekstase ohne Form beschrieben wird. Freud hingegen ver-wendete (mit Bezug auf die indische Philoso-phie) den Begriff des Nirwana, den er mit der Neigung des psychischen Apparats, Spannungen zu reduzieren, in Zusammenhang brachte. Wenig später zieht Freud einen Vergleich zwischen der Schmerz- und Leidensvermeidung und der Abkehr von den Menschen: „Gewollte Vereinsamung, Fernhaltung von den anderen ist der nächstliegende Schutz gegen das Leid, das einem aus menschlichen Beziehungen erwachsen kann. Man ver-steht: das Glück, das man auf diesem Weg erreichen kann, ist das der Ruhe. Gegen die gefürchtete Außenwelt kann man sich nicht anders als durch irgendeine Art der Abwen-dung verteidigen, wenn man diese Aufgabe allein für sich lösen will.“ Es liegt nahe, die obigen Ausführungen Freuds mit der Suche nach einem Eremitendasein, nach Askese und Weltabkehr zu vergleichen, dem sich auch die buddhistischen Mönche hingeben. Denn obwohl der Buddhismus entgegen der landläufigen Meinung keineswegs nur die Religi-on des Nihilismus und des Genussverzichts ist, propagiert er doch unbestritten, und sei es nur für bestimmte Lebensphasen, Weltabkehr und Einsamkeit, um eine spirituelle Praxis zu befol-gen, die den Betreffenden instand setzt, die Welt des Maya, der Illusionen und Täuschungen zu erkennen und zur Wahrheit zu gelangen. Der Zustand der Selbstentgrenzung, der Auflösung der Schranken zwischen dem Ich, der Außenwelt oder den Grenzen eines anderen Menschen, wie ihn Freud mit dem Begriff des ozeanischen Gefühls beschreibt, kann als eine
Seite 15 von 17 Grunderfahrung des Zen-Buddhismus gelten, wobei hier zum einen die Auflösung der Ich-Grenzen zur äußeren Natur hin gemeint ist, zum anderen die Auflösung der Grenzen zu den ei-genen sinnlichen Erfahrungen, die nicht länger als abgeschlossene Erfahrungseinheiten erschei-nen. Folglich spiegelt sich im Blick, der auf eine Pflanze fällt, der unmittelbare, verschmelzende Blick wie er durch die Erfahrung des Seins der Pflanze entsteht, und zwar in dem Augenblick, wenn der Betrachter das Sosein der Pflanze in sich aufnimmt und mit ihr eine Pflanzen-Ich-Einheit bildet. Im Augenblick der Erleuchtung (Satori) er-blicken wir ein Ineinanderfallen von unterschied-lichen Bewusstseins- und Empfindungsebenen. Ebenso wie die Aufdeckung des Unbewussten in der psychoanalytischen Deutungsarbeit will Sa-tori den Prozess des Werdens zum Sein fördern. Diesen beschrieb Fromm – anders als Freud, der den eigenen Therapiezielen wie der Wiederher-stellung der Arbeits- und Genussfähigkeit gegen-über stets skeptisch blieb, mit so überschwängli-chen Bildern wie Freiheit von Angst, Gefühl der Sicherheit als Fähigkeit, schöpferisch zu sein und leistungsfähig. Nach Suzuki beschreibt er: „Zen ist die Kunst, das Wesen Natur des ei-genen Seins zu erschauen, ist der Weg vom Gefangensein zur Freiheit, es befreit unsere Energien und verhindert, dass wir verrückt werden oder verkrüppelt sind und fördert in uns die Fähigkeit zum Glück und zur Lie-be.“ Beide Richtungen verfolgen einschneidende Cha-rakter-Modifikationen wie das Überwinden der oralen Gier, die Zunahme von Selbstbewusstsein und Widerstand gegen autoritäre Strukturen. Mit der plötzlichen explosionsartigen Auf-lösung der Ich-Struktur und der Selbstabgren-zungen, wie sie von Menschen beschrieben wer-den, die Satori erlebten, kommt es zu der er-wünschten Verlagerung des Intellekts und der blitzartigen libidinösen Besetzung der Sinnesor-gane und ihrer Funktionen. Was sich hier als Fehlen von Erinnerung darstellt, kann unter einem anderen kulturellen Blickwinkel als Konzentration der Vergangenheit in einem einzigen Punkt verstanden werden. Das Ergebnis: ein vom ozeanischen Gefühl getrage-nes Ganzheitserleben. Die persönliche Erinne-rung jedenfalls erscheint im Zen-Buddhismus transzendiert, das Individuum ist in den Hinter-grund gerückt, der Aufstieg des Es zum Ich bleibt, mangels identifizierbarer Ich-Instanzen, am Ende aus. Während Fromm angesichts der Hierarchie der Bewusstseins- und Selbsterlösungsstufen, an-gesichts des Auf und Ab des Karma in multigene-rationaler Perspektive, den Menschen in seiner Ganzheit, wozu auch die Wirklichkeitserfahrun-gen mit ihren politischen, kulturellen und gesell-schaftlichen Elementen gehören, nie aus den Au-gen verlor, schien Sigmund Freud an seinem Le-bensende von Lösungen abzurücken und sich ei-ner pessimistischen Weltsicht hinzugeben, in der es keinen Platz mehr gab für Selbsterlösung, und sei es als Ergebnis einer Psychoanalyse. Kollekti-ven ebenso wie individuellen Heilsversprechen hat Freud bekanntlich stets zutiefst misstraut. Der jüdische Kampf gegen Idole und Götzendienst war in Fromms Augen zugleich ein Kampf gegen den Narzissmus, denn Idole repräsentieren ab-gespaltene Eigenschaften, die in dieser vom Ganzen entfremdeten Form und als Fetisch an-gebetet werden. Idolatrie erscheint hier auch als Aspekt der Nekrophilie. Zusammenfassend sei bemerkt, dass Fromm den Buddhismus als humanistische Religion be-trachtete, die dem Menschen die Erfahrung sei-nes Höheren Selbst erlaubte, einer Instanz, die von Freud vermutlich nicht akzeptiert und sogar auf scharfe Kritik gestoßen wäre. Fromm be-zeichnet diese Suche als X-Erfahrung, die sich in Einklang mit den Prinzipien des Zen-Buddhismus beschreiben lässt. Das Leben gilt dabei als offene Frage, die eine lebenslange Suche nach Sinn des eigenen Handelns und Seins nach sich zieht. Sie setzt eine Hierarchie der Werte voraus, an deren oberster Stelle Selbstverbesserung, Arbeit an den eigenen Fähigkeiten der Vernunft, der Liebe, des Mitgefühls und des Mutes stehen. Der Mensch gilt als Ziel, er sucht nach Selbstverwandlung und wünscht, menschlicher zu werden. Die reli-giöse Erfahrung beruht auf einer Selbstlösung und Öffnung der Außenwelt gegenüber und führt zu Ich-Transzendenz, mithin dem Verlassen des Gefängnisses der Selbstsucht, Entfremdung
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und des Getrenntseins von der Schöpfung. Dazu korrespondierend entspricht auch der humanis-tisch analytische Prozess einer Selbstfindung. Fromm fragt: „Was geschieht im analytischen Prozess? Ein Mensch empfindet zum ersten Mal, dass er eitel ist, dass er Angst hat, dass er hasst, während er in seinem Bewusstsein geglaubt hat, bescheiden, mutig und liebevoll zu sein. Die neue Einsicht schmerzt ihn vielleicht, aber sie öffnet eine Tür; sie ermöglicht ihm, ein Ende damit zu machen, auf andere das zu projizieren, was er in sich selbst ver-drängt. Er geht weiter; er erlebt den Säug-ling, das Kind, den Heranwachsenden, den Verbrecher, den Wahnsinnigen, den Heili-gen, den Künstler, den Mann und die Frau in sich; er kommt mit der Menschheit, mit dem universalen Menschen enger in Berüh-rung: Er verdrängt weniger, ist freier.“ Für Erich Fromm lagen die Ähnlichkeiten auch auf einem anderen Gebiet: Der radikale Rückbe-zug auf die sinnliche Erfahrung stand so sehr im Gegensatz zur begriffs- und sprachorientierten Psychoanalyse, dass sie besonderer Erwähnung bedurfte. Mit der Betonung der sinnlichen Ge-wissheit öffnete Fromm sich später auch den humanistisch-psychologischen und körperorien-tierten Therapien. Viele der hier entwickelten Körper- und Wahrnehmungsübungen scheinen direkt den Zen-Übungen entsprungen zu sein, die Erich Fromm so schätzte: „Ein Mönch fragte: ,Was an den Erschei-nungen ist wahr?’ Der Meister antwortete: ,Erscheinung ist Wahrheit; Wahrheit ist Erscheinung.’ Der Mönch fragte: ,Wo offenbart sich das?’ ,Hier’, sagte der Meister und hob das Tee-brett. Ein Mönch bat: ,Ich bin krank. Heilt mich, Meister!’ Der Meister sagte: ,Ich werde dich nicht heilen!’ ,Warum?’ fragte der Mönch. ,Damit du weder lebst noch stirbst.’ Ein Novize kam zum Meister Hsüan-scha und sagte: ,Ich bin noch neu im Kloster und suche den Weg zur Erleuchtung. Bitte, gebt mir einen Rat, wie ich ihn finden kann.’ Hsüan-scha fragte: ,Hörst du das Rauschen des Flusses?’ ,Ja, Meister’. ,Wenn ja – das ist der Weg’.“ Ein Weg, der am Ende über die gleiche Brücke führt, die schmal ist und furchteinflößend, die auch dem jüdischen Suchenden anempfohlen wird und die wohl auch Freud überquert hatte, bevor er sich im Ozean beseligender Ekstase wiederfand.
Literatur (in Auswahl)
Assmann, Jan (1999): Das kulturelle Gedächtnis, München.
Bi-Yän-Lu (1964): Meister Yüan-wu’s Niederschrift von der Smaragdenen Felswand erläutert von Wilhelm Gundert in zwei Bänden, München.
Faber, M. D. (1996): New Age Thinking, University of Ottawa.
Freud, Sigmund (1999): Gesammelte Werke, Frankfurt.
Fromm, Erich (1979): Haben oder Sein, München.
Fromm, Erich (1972): Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie, Frankfurt. Fromm, Erich (1966): You shall be as Gods, New York.
Fromm, Erich (1992): Humanismus als reale Utopie, München.
Fromm, Erich (1989): Schriften über Sigmund Freud, kommentiert von Rainer Funk, Stuttgart.
Fromm, Erich (1990): Die Furcht vor der Freiheit, München.
Fromm, Erich (1960): Zen-Buddhismus und Psychoanalyse, München.
Funk, Rainer (1983): Erich Fromm, Mit Selbstzeugnis-sen und Bilddokumentationen, Reinbek.
Govinda, Lama Anagarika (1962): Die psychologische Haltung der frühbuddhistischen Philosophie, Zürich.
Izutsu, Toshihiko (1979): Philosophie des Zen-Buddhismus, Reinbek.
Rheinz, Hanna (1988): Oedipus, oder der gewundene Pfad der Psychoanalyse, Frankfurt. Rolland, Romain (1993): Sigmund Freud et Romain Rolland, Correspondance, 1923-1936, Paris.
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Roth, Michael (1998): Freud – Conftict and Culture, New York. Schneerson, Menachem Mendel (1985): Towards a Meaningful Life, New York.
Suzuki, Daisetz T. (1957): Der westliche und der östliche Weg, Frankfurt
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Publikation der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft e.V.
Publication of the International Erich Fromm Society
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