Die Liste der Regierungen Israels ist lang, ihre Regierungsdauer hingegen ist oft überraschend kurz, und scheint immer kürzer zu werden. Einer der Gründe ist die Spaltung der israelischen Gesellschaft. Nur wenige Stimmen liegen zwischen der Regierungskoalition und der Opposition! Diese dünnen Mehrheiten sind unbeständig und können sich rasch ändern. Sie bringen Regierungen zu Fall und zeigen, daß eine Bruchlinie die israelische Gesellschaft teilt.

Dies zeigt sich auch aktuell: Nach den Wahlen Ende letzten Jahres wird noch immer um die Grundlagen der Regierung gerungen. Streit- und Angelpunkt ist der in seiner 6. Amtszeit wirkende Benjamin Netanjahu und sein Entwurf einer Gesetzesreform. Netanjahus Partei LIKUD und eine Koalition aus Rechts-religiösen Parteien wollen mit massiven Gesetzesänderungen das bewährte Kontrollsystem des Obersten Gerichts aus den Angeln heben.Dies könne das Problem der Minimal-Mehrheiten ein für allemal lösen…

Die Kritik daran ist massiv. So wird nicht nur Netanjahu das Motiv des “Eigeninteresses” vorgeworfen. Israels Premierminister ebenso wie andere Koalitionsmitglieder sind in Korruptionsaffären verwickelt und ihnen stehen Prozesse bevor. Was liegt da näher, als politisch Einfluß zu nehmen? Dienen Netanjahus Pläne zur Reform des Obersten Gerichts dazu, den bevorstehenden eigenen Gerichtsverfahren den Wind aus den Segeln zu nehmen?

Ein Schreiben der Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, wie Times of Israel am 24. März 2023 berichtet, legt nahe, daß der israelische Premier Benjamin Netanjahu und seine Koalition von LIKUD und Parteien aus dem rechten Lager der Religiösen haben sich bei ihrem Entwurf einer Gesetzesreform offenbar von Eigeninteressen leiten lassen. Die kaltschnäuzige Vorgehensweise, mit der Netanjahu seine Kritiker abfertigt kommt nicht an. Weder beim Oberhaupt des Staates Israel Jizchak Herzog und den früheren Premierministern Yair Lapid und Naftali Bennett, oder den Hunderttausenden täglich protestierender Israelis, zu denen sich Juden im Ausland und deren Verbände gesellen. Es geht um nichts weniger als dem befürchteten Abbau der Demokratie in Israel, der “Verwandlung Israels in eine Diktatur”, sollte es Netanjahu und seiner Koalition gelingen, die Kontrollmöglichkeiten des Obersten Gerichts zu beschneiden.

Wohin steuert Israel? Nach mehreren, meist nach kurzer Regierungsdauer zerbrochenen Regierungen und zahlreichen Wahlen in den letzten Jahren, Ist Netanjahus erneuter Wahlsieg Ende letzten Jahres – mit einer knappen Mehrheit von gerade mal vier Stimmen -, eigentlich kein Anlaß zu übermäßigem Machtgebahren …

Doch hinter dem politischen Tauziehen um die Frage, wer nun die Oberhand behält, Netanjahu, dem LIKUD und der Koalition der Religiösen Fundamentalisten oder den Kritikern wie Staatspräsident Herzog, den früheren Premierministern Yair Lapid und Naftali Bennett, den Hunderttausenden täglich protestierenden Israelis -, verbirgt sich eine komplizierte Gemengelage. So gelang es Netanjahu, den Wolf zum Hüter der Schafe zu machen, als er ausgerechnet den rechtlich vorbelasten Bezalel Smotrich zum Finanzminister ernannte. Doch selbst innerhalb von Netanjahus LIKUD-Partei wächst die Opposition gegen den einstigen politischen Überflieger. Obwohl Netanjahus Unterstützung zu bröckeln beginnt, gilt er immer noch als Strippenzieher und droht laut Berichten israelischer Nachrichtendienste damit, daß jeder, der sich gegen ihn stelle, seine politische Zukunft im LIKUD verspielt habe…

Das Hauptziel der geplanten Gesetzesreform ist es, die Macht des Obersten Gerichtshofes zu brechen. In Israel, in dem es keine geschriebene Verfassung gibt, ist der Oberste Gerichtshof federführend beim Schutz der Grundrechte. Durch die Gesetzespläne, so befürchten Kritiker, drohe der Bruch mit allem, was Israels Politik bisher auszeichnete.

Wird Netanjahu seine Kritiker ins Leere laufen lassen? Oder den Forderungen nach einer Diskussion unter Einbeziehung der Opposition nachkommen? Es wäre mehr als nur ein Bruch der demokratischen Kultur Israels, wenn die Regierungskoalition die Kompromißvorschläge der Opposition weiterhin ignoriert, um sich – trotz der massiven Proteste – im Alleingang durchzusetzen und die Gesetzesnovelle in der anstehenden dritten Lesung zu verabschieden? Der neuen Regierung und ihren Mitgliedern wird nichts weniger als Verachtung der Judikative vorgeworfen, zumal nicht nur Netanjahu ein Prozeß wegen Korruption droht, sondern auch anderen leitenden Politikern seiner Koalition. Eine Konstellation, die vergeßlich macht: Gewaltenteilung und Machtbegrenzung sind nun mal die Grundlage der Demokratie…

Die Zeichen in Israel, in der Politik ebenso wie in der massiv protestierenden Bevölkerung – stehen auf Sturm. Ein Sturm, der längst auf dem Weg ist ein veritabler Orkan zu werden.