von Hanna Rheinz

Es bleibt nichts anderes übrig als Zerbrochenes, Zerstörtes. Es bleibt nichts übrig. Es bleibt mir nichts übrig.

 Als?

Die Lumpen wegzureißen, um zum Wesentlichen zu kommen. Auch so ein Plan.

Es bleibt  mir nichts anderes übrig als mich mit den Dingen zu arrangieren.
Zwei Dinge fallen mir ein.  Vor allem diese zwei.

Sie erwiesen sich als eine größere Herausforderung als die anderen Dinge, die in mein Leben einfluteten und die ich längst wieder vergessen habe.

Ein versilbertes Kaffeegeschirr, das sich  immer noch in den nie ausgepackten Kisten meines letzten Umzugs befindet. – Hoffentlich,  hoffe ich,  ist das versilberte Kaffeegeschirr noch in einem der  Kartons. Hoffentlich ist es  nicht verloren gegangen. Mag es auch verloren gewesen sein, so konnte es doch immer noch für mich verloren gehen, was ich bedauern würde.

Dabei fällt mir ein: Einmal war ich so weit, das versilberte Kaffeegeschirr  verkaufen zu wollen. Mir wurde ein Sammlerpreis geboten. Doch ich brachte es am Ende nicht über mich, diese Reste des Geschirrs zu verkaufen (Reste, denn etliches ist  zerbrochen, trotz all der Pflege,  die dem Geschirr zuteil wurde in all den Jahren und Jahrzehnten. All dies Putzen mit dem eigens dafür gehalten Silberputztuch.  Es schien mehr Schaden als Nutzen anzurichten. Was blieb sind Reste (wenn überhaupt), Reste, die  im Lauf der Jahre immer mehr von ihrer silbernen Oberfläche einbüßten. Reste, an denen der weiße Porzellankörper frei gelegt wurde. Ein nacktes Geschirr, ein gebrochenes Gefäß, zu nichts mehr zu nutzen. Trotz dieser offensichtlichen Defekte, und obwohl der Sammler mir einen guten Preis bot, obwohl er mehrmals sein Kaufgebot erhöhte, und sicher meinte, es mit einer besonders geschickten Verkäuferin zu tun zu haben, schickte ich ihn am Ende weg. Ohne Bedauern. Ich mochte mich nicht von dem alten Geschirr trennen.

Dieses mit einer dünnen Schicht Silber ummantelte Geschirr bleibt verloren (auch wenn ich es wieder finden sollte), weil es seit je vor allem eins war: Abbild, nichts als  Abbild. Abbild eines Abbilds. Dennoch real, dennoch geliebt. Geliebt mit der  Liebe, die dem verlorenen Original  galt, an das sie sich erinnern konnte, wenn sie das versilberte  Geschirr betrachtete  mit all seinen Schnörkeln und Verzierungen.

Eine Aussage blieb mir besonders in Erinnerung: Sie hörte nicht auf mir einzuhämmern, daß das verlorene Original aus massivem Silber war. Selbstverständlich massiv. Keine dünne Schicht, sondern ein massiver Guß. Es schien ihr ein großes Anliegen zu sein, daß ich dies in Erinnerung behielt. Ich,  die ich inmitten der Kisten und Kartons lebte und nichts anderes kannte als Provisorien, und es wohl keinen Ort gab, der weiter von mir entfernt sein konnte, als jener vergangene, jener zerstörte, verschwundene  Ort, an dem es Geschirr aus massivem Silber gab.

Sie kaufte das versilberte Geschirr  von ihrem ersten selbst verdienten Geld, Jahre  nach dem  großen  Morden, als die Welt, in der sie lebten, für immer zerstört wurde. Sie kaufte es billiger. Sie entschied sich es zu kaufen, obwohl bereits vor ihrem Kauf ein Teil fehlte. War es eine Tasse, ein Unterteller?Ein Kännchen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß  etwas fehlte. Das Geschirr war nicht vollständig. Von Anfang an. Aus diesem Grund bekam sie es billiger (ohne danach fragen zu müssen, was ihr nicht möglich gewesen wäre).

Und da war noch das zweite Ding, das sie mir hinterließen. Ein Ding, das  übrig blieb aus der Zeit davor. Der Zeit, über die nicht gesprochen wurde. Oder nur in Andeutungen, die meine Fantasie in beunruhigender Weise erregte. Ein Ding, das passend schien, meiner angemessen. Ein  zerbrochenes Ding, das zu nichts mehr taugte als an Schadensfälle zu erinneren. Und daran, daß sie nicht mehr gerichtet, nicht mehr repariert werden können. Was es damit auf sich hatte merkte ich natürlich erst später. In gewisser Weise fühle ich mich von diesem Ding betrogen. So als hätte es mich ausgenutzt, mich auf eine falsche Fährte geführt, mich dazu bewegt, einen Weg einzuschlagen, der mich nicht weiter bringen würde.

Doch das merkte ich  erst viel später. Ebenso diese merkwürdige Gefolgschaft, die mich dazu bewegte, dieses Gefäß für so wichtig zu halten, daß ich es nach dem letzten Umzug wie bei allen anderen zuvor, unverzüglich aus der Umzugskiste  herausfischte, es auspackte, um  es  wieder griffbereit  zu haben.

Ich mache mir nicht mehr vor, daß es so oder so ist. Wertvoll? Schön? Das zählt nicht für mich. Ich bin unter den Bedingungen der Provisorien zum Menschen geworden und  verharre seither genau dort. Inmitten von  Provisorien. Selbst errichteten zumeist. Es ist  meine mißratene Ästhetik der Kartons und Kisten, die ich von einem Ort  zum anderen schleppe, weil ich etwas mit ihnen verbinde,  weil ich mir von ihnen etwas verspreche, das sie vermutlich nicht zu leisten in der Lage sind. Und dennoch. Und immer wieder:  Ich hoffe, sie können mir sagen, wer ich bin. Ich meine, sie helfen mir, mich an mich selbst zu erinneren.  Und an das, was war und nicht war. Und nicht mehr war und sein wird.

Ich blicke das zerbrochene Gefäß an, das ich im Laufe der nächsten Monate  wieder einpacken werde, um es, wenn überhaupt, woanders hin zu transportieren. Denn dies ist die Aufgabe dieses Jahres. Einen neuen Ort zu finden. Unter den widrigsten Bedingungen.  Unter den Bedingungen der Unmöglichkeit. Nur eines ist sicher.   Ich werde nicht ohne dieses zerbrochene Gefäß zu diesem neuen Ort aufbrechen, wenn ich ihn denn überhaupt je finde.  Und das bedeutet nichts anderes als  das Unmögliche von gestern mitnehmen, es in eine ungewisse Zukunft schicken.  Denn selbst wenn ich ihn finde,  werde ich nichts anderes als Zerbrochenes mitnehmen.

Dies ist das Ding, das mich so beschäftigt:

ZerbrochenesGefäß

Es war ein langer Weg dorthin (also hierhin).  Zu erkennen, daß es, warum auch immer, offenbar so wichtig ist, daß ich mit diesem Bild, dem Blick auf das zerbrochene Gefäß,  die Odyssee des Jahres beginne, an dessen Ende sich erweisen wird, ob ich einen neuen Ort gefunden haben werde oder nicht, oder ob ich nur finde,  indem ich die falsche Entscheidung treffe, wieder, wie so oft zuvor, nicht wahr? Die Sprache und dieses andere läßt mir keine Ruhe, immer weiter zu fragen  bis ich immer wieder an genau diesen Punkt komme.

Es war nicht immer so. Ich mußte erst lernen, den Anblick auszuhalten.   Meinen Blick auf das Ding zu richten und erkennen, daß ich auf etwas Zerstörtes blicke.  Zerbrochenes sehe, nichts als  Zerbrochenes.

Das, was mir hinterlassen wurde, was übrig blieb, ist, was mir übrig bleibt, ist defekt.

Und das mir womöglich nichts anderes übrig bleibt, als genau dies immer wieder zu finden.

Immerhin. Dies mag gelungen sein: Lernen, es auszuhalten. Fragen,  was dies für mich bedeutet.

Ich stelle Überlegungen an, was die Ursache der Zerstörung war. Wirklich ein Brand in einer Bombennacht? Als das echte Silbergeschirr (massiv) für immer schmolz, da der Schmelzpunkt von Silber schneller erreicht ist  als der von anderen, weniger edlen Metallen. Stammen die schwarzen Stellen vom Feuer? Wenn ich darüber wische, löst sich kein Ruß. Das Metall selbst hat sich verändert. Heute gelingt es mir Überlegungen darüber anzustellen.  Woher stammen die Brüche? Platzte das Gefäß, weil es zu heiß wurde oder gab es einen anderen Grund? Wenn ich das Gefäß aufklappe sehe ich  alten Samt. Er ist nie ersetzt worden. Er ist nicht angeschmort. Der Samt mag schütter sein, das Alter verraten. Doch er verrät nicht, ob er Zeuge der Zerstörung war. Er verrät nichts über die Zerstörung. Mag sein, daß dies seine Komplizenschaft ist.

Mir scheint der Stoff will verhindern, daß mir etwas deutlich wird. Etwas, das verfänglicher sein könnte als das Alter, das angesichts der Zerstörungen hier und dort wohl eher als Petitesse gelten muß.

Hier sind weitere Ansichten des zerbrochenen Gefäßes, das mir hinterlassen wurde:

ZerbrochGefäß2

So sieht es von unten aus:

ZerbrochGefäß3

So sieht es von innen aus:

ZerbrochGefäß4

All diese Fragen kann ich mir heute stellen. Zwischen den Umzügen.  Ohne daß ich wanke, ohne mein Bewußtsein zu verlieren. Ohne zu vergessen. Ich vergesse nicht mehr, daß sie mir dies hinterlassen haben. Die Attrappe eines geschmolzenen Silbergeschirrs, das ich nie gesehen habe und über dessen Wert ich, wenn ich denn wollte, nur spekulieren könnte. Ein Ersatz, der auch als Ersatz nicht vollständig ist und nie vollständig war. Und dieses ovale Gefäß, in das eine Weintraube passen könnte oder ein Ei. Allerdings ein großes (nicht das Ei eines Straußen, die man sich  heute als Rarität  beschaffen kann.  Eher das Ei einer Ente. Oder einer Gans.   Oder war dies nicht vielmehr das Gefäß für eine Zitrone? Eine Frucht, die  in der Zeit, aus der dieses Gefäß stammt, etwas Wertvolles, etwas ganz Besonderes war.  Ja, mir scheint es wahrscheinlicher, daß dies das Gefäß für eine Zitrone war. Das zerbrochene Gefäß  für eine Frucht, die nicht mehr beschafft werden konnte, die nicht mehr beschafft werden durfte. Dies mag der eigentliche Grund dafür sein, daß ihnen nichts anderes übrig blieb, als das Gefäß als Zerbrochenes zu hinterlassen. Es stand kein Inhalt mehr zur Verfügung, der auf den  Samt hätte gelegt werden können.  Es war vergessen worden, was hier hineingepaßt hätte.

Dies also habe ich mitgenommen. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Von Ort zu Ort. Von Umzug zu Umzug. Ein Gefäß, das zerbrochen ist. Wer weiß woher. Wäre sie dazu in der Lage gewesen, das Gefäß selbst zu zerstören? Doch warum? Wollte sie mir etwas mitteilen? War sie unfähig, oder nicht willens, mir etwas anderes zu hinterlassen?

Eine unerhörte Frage. Eine Frage, die  nicht von der Hand zu weisen ist.

Die Zweifel aufkommen läßt, die nicht mehr aus dem Weg geräumt werden können. Die alles mit sich reißen,

Die beiden Tonmünzen stammen, nebenbei bemerkt,  aus einem anderen Fund. Sie waren nicht Inhalt des Gefäßes. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen. 

Es sind Münzen, und nicht Scherben. Sie sind in beunruhigender, in unpassender Weise intakt.