von Hanna Rheinz

Es geschehen merkwürdige Dinge. Du lebst seit acht Jahren an einem abgelegenen Ort, hast dein soziales Umfeld verloren, deine Kontakte. Nur wenige der ehemaligen Kontakte werden einige Male im Jahr in virtuelle verwandelt, die meisten bleiben verschollen.

Man kann sagen, es gibt Menschen, die schon seit langem unter den Bedingungen des Social Distancing leben. Die sozialen Vermeidungsstrategien haben viele Gründe und bereits früher waren sie oft mit der Furcht vor Krankheiten, vor Ansteckung verknüpft.

Warum Menschen so leben und nicht anders, warum Menschen an einem bestimmten Punkt erkennen, und manchmal auch beweinen, in sozialer Isolation zu leben, und das schon sehr lange, hat nicht selten Gründe, die in ferner Vergangenheit liegen. Generationen entfernt, oder nur ein halbes Jahrhundert.

Es war auch damals eine schlimme Krankheit, eine Epidemie, etwas was Menschen seit Jahrhunderten große Angst machte. Tuberkulose. Ich hatte mich als Kleinkind infiziert. Plötzlich stand ein ungeheurer Verdacht im Raum. Ich habe ihn nicht verstanden, ich habe ihn gefühlt. Ich habe die Wortsplitter, die mich trafen, das zurückweichen vor mir, die Abwendung, nie vergessen.

Wer hatte mich infiziert und für wessen Infektion war ich verantwortlich? Damals – in den zerstörten Städten – beinahe 10 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg – lebten Hunderttausende Menschen, die ihre Heimat, ihre Familie, ihre Wohnung, ihre Häuser, ihre Kultur verloren hatten, in den Ruinen der kaputten Häuser in den zentralen Bereichen der Städte, die zerbombt worden waren und selbst Mitte der Fünfziger Jahre noch nicht wieder aufgebaut worden waren.

Unsere Nachbarn kamen von überall her. Flüchtlinge, Vertriebene, Ausgebombte, Verarmte, Kranke allesamt. Man verstand die Sprache der anderen nicht immer. Es herrschte Unsicherheit, Angst, Aggressivität. Als das Kind an Tuberkulose erkrankte fragte man, wen hat es noch angesteckt? Der und der oder die waren ja auch krank. Das Kind durfte fortan nicht mehr berührt werden. Man durfte sich ihm nicht nähern. Überdies hatte es den eigenen Vater auch angesteckt. Oder war es selbst durch den Vater angesteckt worden? So genau konnte, wollte man das nicht wissen. Entscheidend war, jeder mußte sich schützen, mußte Abstand halten. Zu groß war die Gefahr der Ansteckung. Zu groß die Gefahr, daß die geschwächten, von Verfolgungs- und Kriegserlebnissen traumatisierten (das Wort gab es damals noch nicht) Menschen, die Krankheit nicht überstanden.

Es war also nur natürlich, daß mich fortan niemand mehr anfaßte, sich mir niemand mehr ohne Befürchtungen näherte – und alle auf Distanz blieben. Und ich selbst dafür zu sorgen hatte, daß es so blieb. Denn ich wollte meine Chance nicht verwirken, weiterhin unter Menschen leben zu dürfen und sei es auch am Rande, an der Grenzzone, die niemand, kein Mensch betreten durfte. Ich kann micht nicht erinnern, in der Kindheit je umarmt worden zu sein. Meine Eltern hatten auch Angst. Sie waren stark, denn sie hatten es bis hierhin geschafft und in mir ihr erstes und einziges Kind in hohem Alter auf die Welt gebracht. Und sie waren nicht stark. Nicht überlebenstüchtig. Der Tod stand immer irgendwo in der Ecke und wartete. Diese Jahre bestimmten, was aus mir wurde. Und was nicht. Ich blieb mein Leben lang auf Distanz. Das war doch nur vernünftig. Jedenfalls hatte ich das gelernt. Und ich habe nichts anderes an diese Stelle setzen wollen.

Nun ist etwas Unerwartetes geschehen. Mitten in der Zeit, als das sich Entfernen von anderen wieder so eine große Bedeutung erhielt, um die vielen vor den wenigen gefährlich Ansteckenden zu schützen, begannen einige Versandfirmen, von denen ich Grundnahrungsmittel beziehe, ihre Kartons innen zu bemalen. Sie hinterließen freundliche Worte. Sogar riskante Worte wie “Liebe Sowieso” fielen, die man andernorts nicht hörte, wenn nicht gerade ein Kundengespräch erfolgreich zu Ende gebracht werden sollte.

Sie schrieben sehr gewagte Worte, wie “Wir lieben dich!” Komm wieder!

Ich war verwirrt, gerührt, unsicher. Wie war das zu verstehen? Ich kann mir nicht länger vorstellen, das Liebe jemals wieder eine Rolle im Leben spielen wird, Liebe wie jene, die so überraschend und ohne Forderungen und Erpressungen kommt. Ich schneide mir die Grüße aus und behalte sie. Manchmal hole ich sie hervor und lese all die freundlichen an mich gerichteten Worte. Auch kleine Skizzen sind dabei. Herzen, sehr viele, aber auch Skizzen von Katzen und Hunden, die die Botschaften der Freundlichkeit weiter tragen sollen.

Ich bin erstaunt und verwundert. Doch diese kleinen Freundlichkeiten sind einfach … nett (in Ermangelung eines gewichtigeren Wortes).

All den Unbekannten dort draußen, danke ich. All jenen, die erkennen, daß Schutz nicht Abwendung bedeuten darf, Isoliert Werden, Zurechtweisung, Gemaßregelt werden, Beschuldigt Werden, dem Betreffenden böse Absichten unterstellen, diese entsetzliche Drohung, die dir heute in den Ansiedlungen der Menschen so viele an den Kopf werfen, man selbst habe schuld und habe nun einen anderen auf dem Gewissen, weil deine Nase einige Millimeter frei war, als deine Maske rutschte, Anschuldigungen, von denen nur wenige Menschen wissen, daß sie einem Menschen das Herz brechen können.

Als das Kind von damals größer wurde, merkte es, – wie sehr es mit dem Verstand, seiner Einsicht, alles vergeben und vergessen wollte -, seine Gefühle unbeirrt einen anderen Weg einschlugen: Es mußte sich eingestehen, daß es seinen Eltern nicht verzeihen konnte, es im Stich gelassen zu haben. Es ohne Erklärung, ohne Verabschiedung, weg geschickt zu haben. Jahrelang. Und es dort, in der Fremde unter Fremden eingeschult zu haben. Und es irgendwann, als es gerade paßte, zurück holten in ein Haus umgeben von Ruinen, in denen grausame Kinder den Heimatlosen unter ihnen auflauerten. Und die Eltern weg blickten, Eltern, die es auch nach seiner Genesung nie mehr, nie wieder umarmen konnten.