suchen
- Politik
- Gesellschaft
- Wirtschaft
- Kultur
- Wissen
- Digital
- Campus
- Arbeit
- Entdecken
- Sport
- ZEITmagazin
- Podcasts
- mehr
: Ortsbesichtigung
Am Obersalzberg harrt noch immer das “achte Weltwunder”. Millionen von Nostalgiefahrern machen sich alljährlich auf zu Hitlers ehemaliger Datscha. Den Weg dorthin erfragt man längst nicht mehr hinter vorgehaltener Hand. Unsere Autorin begleitete ein israelisches Filmteam Von Hanna Rheinz 4. Dezember 1992, 8:00 Uhr Aus der ZEIT Nr. 50/1992
Ortsbesichtigung – Seite 1
Von Hanna Rheinz
Verkannt, belächelt, abgetan – der Lehrpfad. Dabei findet er sich zuhauf in deutschen Landschaften und ist eine durchaus nützliche Einrichtung. Zum Wesen des Lehrpfads gehört, daß er einen Rundblick erlaubt und den müßig Umherschweifenden unaufdringlich über die heimische Pflanzen- und Tierwelt aufklärt.
Da gibt es Weinlehrpfade, die sich an Flüssen entlangschlängeln und den ambitionierten Önologen mit dem Werdegang der Rebe vertraut machen. Der Baumlehrpfad unterrichtet den Naturfreund über das düstere Schicksal des Waldes und wie selbiges noch abgewendet werden könnte. Beim Streifzug durch die Natur schlägt man hierzulande gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Immer an Schautafeln entlang, wird ein Marsch durch die Landschaft zur pathetisch-bodenständigen Geschichts-Schau. Angenehmes mit Nützlichem verbindend, erfährt der rüstige Polypragmatiker, was auf der Scholle, die er gerade niedertrampelt, noch alles gedeihen könnte, ließen man der Natur nur endlich freien Lauf.
Ich schlage vor, auch anderweitig Gewachsenes endlich in derlei Umwelterkundungen mit einzubeziehen. Warum eigentlich kein Antisemitismus-Lehrpfad? Mit der Option genetische Säuberung? Von der Maische bis zur Reblaus, vom Pogrom bis zur Schoa ließe sich hier der Lebenszyklus solide gewachsener Volksempfindungen für die interessierte Allgemeinheit veranschaulichen. Einige Etappen auf diesem völkischen Holzweg recherchierte ich kürzlich mit einem Filmteam aus Israel. Im Sold einer Holocaust-Gedenkstätte, versorgt mit Auto- und Kreditkarten, machten wir uns auf die Suche nach einer geeigneten Route.
Ortsbesichtigungen. Das Stadium des Saatguts. Ein Volksfest. Die intakte Landsmannschaft, wie sie feiert und johlt. Die Kehrseite des Gruppenwahns: eine Containersiedlung am Ortsrand. “Asylanten Raus!” Für Schmierereien braucht der Requisiteur hier nicht mehr zu sorgen. Neben der neuen bayerischen Spezies “Müllsau” unübersehbar die Fossilien: “Neger- und Judensau”. Unbeirrt eilen wir weiter dem Wachstumsgebiet der immergrünen Loden entgegen. Eine nationale Beerenauslese, die “Perle” des Obersalzbergs: das Kehlsteinhaus. Bravourstück deutschen Ingenieurtums (nebst Zufahrt) und daher als “achtes Weltwunder” gepriesen.
Drei Millionen Nostalgiefahrer zählte das Berchtesgadener Fremdenverkehrsamt allein im Jahr 1991. Kaum jemand hier kommt wegen der Bergwelt. Hitlers Datscha liegt über den Wolken und heißt im Jargon der Sieger: “Eagles Nest”. Den Weg dorthin erfragt man längst nicht mehr hinter vorgehaltener Hand. Wir mischen uns unter die illustre Pilgerschar. Hier trägt man Kurzhaarschnitt und die Farben des heimischen Fußballvereins. An Kiosken werden geschichtsübergreifende Pamphlete angeboten. Familienalben in Rekordauflage. Schwarz-Rot-Braun, in den Signalfarben des tausendjährigen Reiches, zeugen sie von wiedergewonnener Zuversicht. Endlich die Wahrheit über das III. Reich. Heimatverbunden Verleger präsentieren selbstbewußt nationale Rückbesinnung – das gesamtdeutsche Geschichtsverständnis. Statt Information: Exhibitionismus. Hier findet ein jeder seinen Führer. Eugen aus Erfurt blättert andächtig in Hitlers Romanze. Martin Bormann kam schließlich auch aus Thüringen und hatte sich aus proletarischen Verhältnissen hochgearbeitet. Ein deutscher Karrieretraum. Vom Zeitungspacker bis zur rechten Hand des Führers.
Der Bus arbeitet sich den Berg hoch. Unter der blechernen Stimme der Ansagerin, die dreisprachig die “repräsentativen Funktionen” des Kehlsteinhauses preist, breitet sich bleiern das Schweigen der noch Unschlüssigen aus.
Ortsbesichtigung – Seite 2
Wer ein Mantelrevers hat, schlägt dieses hoch. Erst im luxuriös verspiegelten Messingaufzug tauen die Revenants auf. Der vermeintliche Skinhead aus Leipzig kommt tatsächlich aus Birmingham. Der Post-GI mit kantig-gegerbtem Fliegergesicht lebt schon seit langem mit seiner Frau im Hessischen und babbelt in der Sprache des “Blauen Bocks” munter drauflos. Er sucht die Couch, “wo’s de Hidler mit de Eva Braun gedribbe had.” Verirrte Bergsteiger mit der Noblesse der weit Herumgekommenen, stramme Japaner mit zackigen Bewegungen lassen sich zwischen Klo und Küche ablichten. “Tenno, Duce, Führlerl, hai hai”, tönt es allerorten in hektischer Betriebsamkeit. Die Bergwelt schweigt zu alledem. Lediglich zänkische Bergdohlen machen sich über das deftige Bauernfrühstück her.
Eugen stochert versonnen in der Leberknödelsuppe. Die goldenen Worte des Kanzlers hat er längst abgehakt. Sein Blick driftet ab ins Vergangene. Hier hat einst jemand gesessen, der deutsches Geschick besser zu verwalten verstand. Das weiß er aus den Broschüren. Verkannt wurde er freilich wie alles Deutsche. Als das Gespräch zu den Ausländern kommt, wird er fuchsig. Von denen fühlt er sich verarscht. “Wir konnten damals ja auch nicht einfach abhauen.” Neid auf die Fremden, die so schnell Leistungsempfänger wurden?
“Wie kann man hier nur leben?” fragt mich Uri vorwurfsvoll. Unterhalb des Gipfelkreuzes kauft er sich einen Volksempfänger mit Innenleben. Auf Knopfdruck wird eine Diaserie in Gang gesetzt. Ordentlich ruckelt das Kehlsteinhaus und seine Einrichtung am Auge des Betrachters vorbei. Arbeitszimmer, Speisesaal, Oktogon, gegenüber der Watzmann. Ein kleines Mädchen in Israel wird mit Blick in Hitlers Wohnzimmer aufwachsen.
Aus dem Carraramarmor flackern dezent verborgene Hakenkreuze empor. Der Führer schlürft Tee und tätschelt Blondi. Gealtert? Mitnichten. Die vegetarische Lebensweise hält fit. Im geblümten Kleid, frisch onduliert, huscht Eva Braun durch die Kolonnaden und gibt Autogramme. Das verschämte Lächeln des geschlagenen Kindes ist ihr ins Gesicht gefroren. Der “Führer” macht sich’s derweil bei einer “gemütlichen Plauderstunde” mit Reichsmarschall Göring bequem. Wie eh und je sind seine hirschledernen Hosenträger stramm nach oben gezogen. Der ehemalige Kommandant des Obersalzbergs berichtet exklusiv. Im Tenor des “Man muß Hitler zugestehen, daß …” vermittelt er, daß man wieder stolz sein darf auf die NS-Größen. Der Führer war auch nur ein Mensch. Herzige Dirndl- und Trachtenjanker-Kinder sowie eine rührend zur Schau gestellte Tierliebe.
Einfühlsam wird berichtet, daß Hitler unter Schwindel und Atemnot litt und für sein Nachmittagsnickerchen das Chalet im Tal bevorzugte. Der Krieg zog seine Gesundheit nämlich arg in Mitleidenschaft. Das traute Beisammensein am Kamin wird durch keinen Überfall gestört. Vielmehr werden verlorene Objekte wieder eingegliedert, ehemals deutsche Gebiete zurückgewonnen. Nach dem Loblied auf die Mentalität des deutschen Schäferhundes zeigt der Autor Flagge: “Man sollte in diesem Falle (der Bewertung Hitlers) Minderheiten und Mehrheiten nicht in Zusammenhang bringen.”
Geschichte im Gartenzwerg-Format. Niedlich, mit Knicks. Harmlos und putzig, mit Schleifchen dekoriert. Wohin das Auge blickt, Alpenglühn und Trachtenverein. Als Refrain die bekannte Litanei der Autobahnen und Volkswagen. Keine Gaskammer, keine Rampe, keine Todesstatistik stört die selige Ruhe der Touristen. “Nun ist es an der Zeit, die Vergangenheit abzulegen und Schuldgefühle ruhen zu lassen.” Mit dieser beruhigenden Suggestion des Autors in den Ohren ziehen wir weiter.
Letzte Station. Das Geburtshaus in Braunau. Unter all der selbstzufriedenen Loden-Adrettheit das Bodenlose. Auslöser: ein Behindertenheim. Eine endlich “beschützte” Werkstatt für jene, die früher als “lebensunwert” vernichtet wurden. Die Heilpädagogin führt uns durch das Haus. Den Raum, wo “er” wohnte, könne sie uns leider nicht zeigen. Der sei unbekannt. Er ist nirgends und damit überall. Das ganze Haus ist Kultstätte. So sehen es jedenfalls die vielen Touristen, die hierherkommen. “Eine Schande, daß die sich ausgerechnet in seinem Geburtshaus breitgemacht haben”, meinten einige. “Beim Hitler wären die längst vergast worden. Der hätte sie weggemacht. Heute müssen wir für die sogar noch zahlen.” Schon wieder zeitgemäß, dies Unerbittliche, Herzlose, der Wille auszumerzen, was störend, schwächer, anders ist. Anfang und Ende. Die Kälte der Satten, die Gleichgültigkeit der Gesunden. Lehrpfad einer ungebrochene Tradition.