Die Qual der Wahl

Der Unterschied zwischen Berlin und München ist nicht gering. Neben den Kilometern, die gefühlte Entfernung zweier Planeten, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Alle vier Jahre schnellt der Entfernungsmesser zwischen den beiden Hauptstädten nochmals in die Höhe; München leuchtet während sich über Berlin dunkle Wolken zusammenbrauen. Stichwort: Berliner Verhältnisse. Aus Münchner Perspektive, ein monströses Spektakel, Chaos, Unregierbarkeit, Überschuldung, offen ausgetragene Skandale, kurzum, ein Un-Ort, an dem es sich nicht ordentlich leben läßt, wozu jeder weit und breit die eine oder andere Kuriosität beisteuern könnte.

Das gemeine Mitglied wundert sich, warum der Strom der Menschen, die von München nach Berlin abwandern, trotzdem nicht abreißen will, und von keinem, der nach Berlin Entschwundenen und in der Chaos Stadt Verschollenen je wieder gehört wurde, vor allem nicht, daß der Abtrünnige in seine ordentliche Münchner Heimat zurückgekehrt sei. Dessen ungeachtet hat das Bedrohungszenario Berlin! die bayerische Großgemeinde wieder fest im Griff, ein untrügliches Zeichen dafür, daß die Vorstandswahl der Jüdischen Gemeinde München und Oberbayern stattfindet. Nun gilt es, die undankbaren Gemeindemitglieder auf Kurs zu bringen und sie an die Gnade ihres Lebens in der bayerischen Metropole zu erinnern. Das Umland wird gerne vergessen, was nicht auffällt, da es ohnehin nichts zu melden hat.

Schon möglich, daß Bayern mit dem aufgeblähten Selbstgefühl und mangelnden Unrechtsgespür des “Mir san mir” überbewertet wird, – auch in seiner jüdischen Variante. Die gern zitierte “Liberalitas Bavariae”, ist nichts anderes als eine verblichene Inschrift am Kloster von Polling, Oberbayern. Wer hier wohnt, weiß, mit Liberalitas ist es nicht weit her. Wofür München steht ist jedem klar.

Hauptstadt der Bewegung. Hier wurde Adolf Hitler groß, hier fand er Förderer und Gefolgsleute, in seiner Luxuszelle im Gefängnis Landsberg schrieb er “Mein Kampf”.

Gründe genug, daß man näher zusammen rückt, entschlossen am Bewährten festzuhalten.

Die Wahlunterlagen sprechen Bände. Wagemut und Innovationsgeist im Land von Laptop, Magen David und Lederhose? Man sucht ihn vergeblich.

Der Blick schweift ins Vergangene. Es soll sie gegeben haben: Neben den “Braunen”, jene anderen: sympathische Exzentriker und Lebenskünstler, Querdenker mit losem Mundwerk, die Aufmüpfigen, darunter so manch bayerisches Urgestein, das sich nicht biegen und brechen ließ.

Sie passen nicht mehr in die Zeit.

Wer heute aneckt, wird zum Schweigen gebracht.

Nur wer das Richtige sagt und entsprechende “Likes” sammelt, wird wegen höherer, konsensfähiger Begabungen artig gelobt.

Dies zeigen die Wahlunterlagen. So werden in quälender Monotonie Erfolgsgeschichten konstruiert, die den schönen Schein nicht bedrohen und ganz nebenbei, die Schwachen noch schwächer machen.

Unausgesprochen, ist dies das Erfolgsrezept: Sich anpassen, so tun als ob. Aus der Qual der Wahl wird die Wahl als Qual der sich selbst preisenden Kandidaten.

Gemeinsamer Nenner, das weißblaue Idyll auf keinen Fall gefährden, etwa durch das wirkliche Leben (Achtung: Ruhestörung). Es empfiehlt sich große Ziele zu verfolgen, Frieden in Nahost sowieso, auch die Probleme mit dem Iran und anderen Schurkenstaaten sollten von München aus, unbedingt aus der Welt geschafft werden.

Wichtig: Den Ausnahmezustand an die Wand malen. Argumente nicht anhören. Wer Änderungen fordert, sollte baldmöglichst zum Antisemiten erklärt werden. Wer abweichende Meinungen vertritt, hat es verdient zur Abschreckung in ein garantiert feindseliges Umfeld verbracht zu werden, etwa nach Timbuktu, wo der Betreffende im Auftrag der Jewish Agency mit Magen David und anderen verdächtigen Insignien behängt, im Schutt nach dem verlorenen Stamm graben soll.

Das Berliner Chaos unter allen Umständen abwehren. Es gilt, Wahlprogramme zu entwerfen, die Veränderung zwar eindrucksvoll anmahnen, zugleich jedoch wirkungsvoll verhindern: die Routinen dürfen nicht durcheinander gebracht werden.

Die Fürstin, so viel steht fest, verbürgt sich weiterhin dafür den Antisemitismus in jeder Form, im In- und Ausland, zuweilen im Umland, vor und hinter den Kulissen wirkungsvoll abzuwehren. Dafür müssen Opfer gebracht werden, das ist jedem klar. Hin und wieder aufflackernde Unruhe neutralisieren, kann nicht schaden. Die ehemaligen (verabschiedet!) und die neuen Kandidaten sind sich nahezu einig:

Eigentlich braucht es gar keine Wahl, womit Werbebroschüren und Magazine eingespart werden könnten (Ich mit dem Präsidenten, rotes Kostüm, ich mit dem Minister, Nadelstreifen, Brunch mit dem Staatssekretär, Freizeitkleidung).

Fragen, Anträge ohnehin müssen angemeldet werden: Vorlaufzeit, je nach Lage können es Jahre werden. Dabei ist selbst in Bayern die Teilhabe in aller Munde. Allerdings gilt es, hier schweift der Blick schon mal auf die in Scharen einströmenden Russen, Zustände wie in der Räterepublik zu verhindern.

Bayern darf nicht wie Berlin im Chaos versinken.

Schweigen wir lieber über jene, die entweder gar nicht kommen, oder die Gemeinde verlassen. Türe-Schlagen, Abschiedsbriefe, Zornesgrollen, ein für allemal oder mindestens bis zur nächsten Lebens- und Sinnkrise, von antisemitischen Schikanen ganz zu schweigen. Sie hätten sich ja aufstellen lassen können, so der Tenor. Allerdings drängt sich der Verdacht auf, daß nur jene vorgeschlagen und aufgestellt werden, die bereit sind, den unausgesprochenen Konsens nicht in Frage zu stellen. Die akzeptieren, auf der Grundlage von Arrangements zu handeln. Unterstützerlisten kursieren in inneren Kreisen; die Außenposten erreichen sie nicht.

Eines ist klar. Der lange Schatten des Berliner Chaos hat schon manche bayerische Wahl gerettet. München bleibt zukunftsfähig. Die Voraussetzungen sind hervorragend. Beständigkeit, Berechenbarkeit. Zuverlässigkeit. Kriterien, die gutes Regieren kennzeichnen. München steht hier an erster Stelle. Immerhin hat sich hier eine letzte (oder erste) Enklave der Monarchie eingenistet. Im Jahr 2015 wird sie ihr dreißigjähriges Bestehen begehen.

Welch eine Gnade, der Beschleunigung und dem unsinnigen Zwang zur Rotation entkommen zu sein. Die Wahlprogramme lassen nichts zu wünschen übrig; da der Politikjargon hin und wieder ein wenig ausufert, wird heuer das Jahr, in dem Sprechblasen abgesetzt werden, die wagemutig hin und herwabern, bevor ihnen mit dumpfem Blubb der lange Atem ausgeht.

Und erst die Kandidaten! Da haben welche was im Hinterkopf und man fragt sich besorgt, was im Vorder- oder Mittelkopf los ist.

Wer die Programme liest (Russisch! Deutsch!) fühlt sich zuweilen wie auf einem Karrussel, das in München bekanntlich erst im Oktober (Bier und Brezn!) so richtig in Fahrt kommt.

Die Sinnfrage lautet.

Warum ich zur Wahl gehe, oder auch nicht? Wer die Wahl hat, hat die Qual. Zunehmend wird dies interpretiert als: Du wählst, wen du selbst aufgestellt hast und vor allem wählst du dich selbst. Und wenn du gar nicht aufgestellt worden bist, gehst du einfach nicht hin. Eine Variante, als Rat zu beherzigen: Den, bitte, wählst du nicht!

Was leichter gesagt ist als getan. Jemanden nicht wählen ist leider noch kein aktiver Wahlakt, was jedoch unbedingt geändert werden sollte. Der Antrag ist einzubringen (Frist!), daß Kandidaten endlich aktiv Stimmen abgezogen werden können von jenen, die sie unbedingt nicht wählen wollen.

Die Nichtabwählbarkeit wird mittels endloser Bestätigungen (Bayerisch: Lobhudeleien) demonstriert: So werden Unbedenkliche durchs Dorf gejagt. Der Aufgalopp, straff geführt von der Fürstin und ihren Getreuen; es herrscht Ruhe. Diese Ruhe freilich hat einen hohen Preis. Die überaus wirksame Strategie der Selbstbeschneidung. Da Teilhabe nur in minimalen Dosen möglich ist, werden Kandidaten rekrutiert, die sich mit einem Programm aus Selbstlob und Lob der jeweils nützlichen Machtträger und AmtsinhaberInnen zufrieden geben. Und denen die Öffentlichkeit (keine Wortmeldungen, keine Keifereien!) dies durchgehen läßt (Chaos! Berlin). Hin und wieder Belobigungen abgreifen.

Soll hier der Beweis geführt werden, könnte man zaghaft fragen, daß in den Zeiten der grenzenlosen Gedanken- und Ideenspiegelungen (Kopieren! Unendliche Reproduzierbarkeit des Sprach- und Wahlakts) – es der kritischen Köpfe aus Fleisch und Blut gar nicht mehr bedarf? Devise: “Nützlich: Sagt, was wir hören wollen! Vorsicht: Intelligent! Eine Warnung, die man leider immer öfter hört (Gefahr der negativen Auswahl). Köpfchen – Bedrohung? Da bleibt etwas auf der Strecke.

Daß dies kurz-, mittel-, längerfristig sogar in Bayern ein Verlust sein könnte, vielleicht sogar auslösender Faktor bei Austritten, Abwanderungen, Kehrtwenden, kommt überraschenderweise niemandem in den Sinn. Am allerwenigsten der Fürstin. Was zählt ist, was am Ende heraus kommt:

Stimmen! Stimmen! Stimmen!

Sinkende Wahlbeteiligung? Sei`s drum. Stimme bleibt Stimme. Sie sind das Material, um Mehrheiten zu bilden. Die Fürstin wartet, sie fordert, sie bekommt ihre Stimmen. Sie lobt. Sie erweist ihre Gunst.

Welch eine Gnade von Obrigkeiten gelobt zu werden. Wer in der Ecke steht, darf sich einige Augenblicke so fühlen als sei er ein Mensch wie alle anderen: Beliebt? Geschätzt! (Licht aus).

Und die Wähler? Die haben ihre Stimmen abgegeben, ohne sie vorher zum Einsatz gebracht zu haben. Und am Ende sind sie ihre Stimme los. So bitter es ist. All die Stimmen, sie sind weg, vergeben. Verloren. Mindestens bis zur nächsten Wahl.

Warum dies so ist, liegt auf der Hand. Gemeindeversammlungen dienen immer mehr der Aktivierung von Wählerstimmen und nicht dem Meinungsaustausch der Gemeindemitglieder. Letztere werden längst als Konsumenten von Gemeinde-Events positioniert.

Was unschlagbare Vorteile hat, erinnert sei wieder an die Abwehr Berliner Gefahrenpotentiale. Und alles so viel leichter macht: Verändern ist ein hartes Brot. Es kann mit Worten in Gang gesetzt werden, doch sobald Worte sich in Politik verheddern, stehen sie in Gefahr zu Phrasen, zu nichts als Gewäsch zu werden. Sie geraten in den Strudel der Belanglosigkeit, gehen unter und kommen nie mehr zum Vorschein.

Die Entmachtung des Worts, ein Instrument, die Menschen in Mutlosigkeit versinken zu lassen; mit der Kraft der Worte, die ihnen geraubt wurde, verlieren sie, scheint es, ihre eigene Seele.

Und wie steht es mit dem Einkommen durch Leibes- und Seelenverkäufe? Mehr als Hundert Mark sind nicht drin. Die Preise sind im Keller, wo sie (Faust geballt! Nicht Faust wie Goethe) bekanntlich hingehören.

Fest steht. Wer gar nicht erst los geht, kommt vermutlich nicht an. Noch nicht einmal im Strudel. Weder auf dem Holzweg, noch auf dem Irrweg, noch auf dem Königsweg. Und auf dem roten Teppich schon gar nicht. Besser auf dem Außenposten der Demokratie ausharren, den Chor der Gefangenen (Nabucco) mindestens pfeifen können, im Wald und draußen, als gar keine Seele haben. Oder nach Abschluß des faustischen Pakts, die Geister, die man rief und wählte, nicht mehr abwählen können. Und verscheuchen schon gar nicht. Was bleibt, eine Handvoll murrender Wiedergänger, verletzte Seelen, verlorene Stimmen (vereinzeltes Geschrei. Heulen, Wimmern, Abgang).

Wenigstens nach der Wahl gilt, der Worte sind genug gewechselt, nun hat der Wortführer das Wort.

Lieber eine Demokratieübung mit Hofknicks als gar keine Monarchie. Oder darf es eine Trockenübung trotz Erklärungsnotstand inmitten des Demokratiedefizits sein? Besser als sinnlos Phrasen dreschen ohne die Zielgruppe fest im Auge zu behalten. Feige Einheitsmeinungen sind nicht gefragt, selbst wenn es sich um diskurs-immanente handelt und der Sachzwang das letzte Wort behält. Auf jeden Fall sind Denkfiguren gelenkiger als Gemeinplätze und nicht eingehaltene Schamfristen. Es gilt nach wie vorher, jedwedes Machtvakuum zu meiden, sogar wenn es sich um ein verschleierungsstrategisch motiviertes handelt. Dem Sachzwang ist unbedingte Priorität einzuräumen. Desinformationen über alles. Durchführungsrichtlinien können entarten, sie auszumerzen würde mittelfristig unsere Kompetenzen überschreiten.

Kurzum:

Seele hin oder her. Wie immer diese Wahl und andere ausgehen wird. Für uns gilt. Wer nicht wagt, gewinnt nicht. Beschneidung hin oder her. Wenn der Mohel nicht darf, sollte man den Schochet dringend rufen. Der könnte dann im Deutschen Bundestag umhergehen und einengend-drängende Probleme final lösen. Der gordische Knoten ist eine Verwachsung (Wehe!). Besser eine verlorene Stimme, als gar keine vorgezeigt und abgegeben haben (Gewalt!). Auf keinen Fall die Flinte ins Korn werfen.

Wir stehen immerhin auf dem Boden; der uns allen genug Platz für unsere Schuhe bietet. Wir haben keinen Grund sie irgendwohin zu werfen. Jedenfalls nicht vor der Wahl. Auf keinen Fall.

Und danach? Ein Paar High Heels mögen mehr als tausend Worte sagen. Doch wer Pfeile hat, möge gefälligst auf Herzen zielen.

Eines ist sicher, Fürstin oder Zarin, am Ende bleibt wie immer – die nächste Qual.

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Hanna Rheinz