Der Europäische Gerichtshof hat sein Urteil zur Rituellen Schlachtung gesprochen. Der Gegensatz vonTierschutz oder Religionsfreiheit ist Vergangenheit.
Die Zukunft heißt Tierschutz u n d Religionsfreiheit.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit seinem Urteil vom 17.12.2020 in der Rechtssache C-336/19 deutlich gemacht, daß auch die Religionsgemeinschaften keinen Sonderstatus für sich beanspruchen dürfen, wenn es um den Tierschutz geht. Die Zeit ist reif dafür, den Tierschutz als ethisches Ziel der Gesellschaft ernst zu nehmen.
Anlaß zu diesem wichtigen Grundsatzurteil war ein Rechtsstreit aus Flandern/Belgien: Flandern hatte 2017 das Schlachten ohne Betäubung verboten, dies nahmen jüdische und muslimische Verbände zum Anlaß gegen diese Verordnung zu klagen. Doch das Argument, das Gebot des Tierschutzes als Staatsziel und als Ziel der Europäischen Gemeinschaft werde durch die Erlaubnis der Jagd ebenso unterlaufen, überzeugte die Richter nicht. Angesichts der Vielzahl der historisch notwendigen Veränderungen, sind auch die Religionsgemeinschaften aufgefordert, ethische Ziele wie den Tierschutz zu achten und sich nicht länger auf ein längst der Vergangenheit angehörendes Schlacht-Procedere zu berufen. (Siehe Auszüge aus dem Urteil s.u.)
In industrialisierten Schlachtstraßen werden Tiere nicht individuell getötet, sondern im Akkord. Unter diesen Bedingungen sind individuelle Gnadenakte mit der Absicht die Tiere schonend zu schlachten, gar nicht mehr möglich. Da geht es nicht mehr um gut geschärfte Messer und Segenssprüche. Industrialisierte Schlachtung heißt Schlachten im Akkord. Eine schonendere Schlachtmethode, zum Beispiel dem Schlachten mit der Methode der nicht zum Tode führenden, reversiblen Kurzzeitbetäubung vor oder nach dem Kehlschnitt, ist aus diesem Grund ethisch geboten.
Es ist verständlich, daß jede Gemeinschaft ihre eigenen Interessen als die wichtigsten behandelt und sie verwirklicht sehen will, selbst wenn sie mit den Absichten und Zielen der Mehrheit nicht vereinbar sind.
Doch sei daran erinnert: Grundlegende Veränderungen des Selbstverständnisses, einhergehend mit einer Erweiterung des Handlungsraumes und des Verständnisses was mit der jüdischen Tradition vereinbar ist, waren auch in früheren Zeiten notwendig. So übernahmen die in Europa lebenden Juden vor mehr als tausend Jahren die vom Christentum praktizierte Monogamie und gaben die polygame Lebensweise auf. Die Takkanot von Rav Gerschom, genannt MeOr haGola (Licht des Exils) um die letzte Jahrtausendwende (Rav Gerschom lebte von ca 960 bis 1028 in Mainz) stellten zahlreiche als unabänderlich geltenden Säulen des Judentums in Frage und veränderten sie. Neben der Abschaffung der Polygamie setzte Rabbiner Gerschom auch durch, daß keine Ehescheidung ohne die Zustimmung der Ehefrau erfolgen darf.
Es ist bedauerlich, daß die jüdischen Verbände ihre eigene Tierschutzethik des Tza`ar balei chayim, die als einer der frühesten uns bekannten Tierschutzethiken gelten kann, immer wieder selbst unterbieten und die Zeichen der Zeit ignorieren. Veränderungen haben das Judentum nicht unterdrückt, sondern es zu allen Zeiten reicher und gerechter gemacht. Dies wird mit einer schonenderen Schlachtmethode nicht anders sein.
Hanna Rheinz
Dieser Text ist auch auf der Webseite http://trialog4animals.eu
sowie auf der Webseite http://tierimjudentum.de veröffentlicht.
ANMERKUNG:
Aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 17.12.2020 betr. Rituelles Schlachten ohne Betäubung:
(18) Die Richtlinie 93/119/EG [des Rates vom 22. Dezember 1993 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung (ABl. 1993, L 340, S. 21)] sah im Fall der rituellen Schlachtung in einem Schlachthof eine Ausnahme von der Verpflichtung zur Betäubung vor. Die [Unions]vorschriften über die rituelle Schlachtung wurden je nach den einzelstaatlichen Bedingungen unterschiedlich umgesetzt, und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigen Faktoren, die über den Anwendungsbereich dieser Verordnung hinausgehen; daher ist es wichtig, dass die Ausnahme von der Verpflichtung zur Betäubung von Tieren vor der Schlachtung aufrechterhalten wird, wobei den Mitgliedstaaten jedoch ein gewisses Maß an Subsidiarität eingeräumt wird. Folglich wird mit dieser Verordnung die Religionsfreiheit sowie die Freiheit, seine Religion durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen, geachtet, wie dies in Artikel 10 der Charta … verankert ist. ….
(20) Viele Tötungsverfahren sind für die Tiere schmerzvoll. Daher ist eine Betäubung erforderlich, mit der vor oder während der Tötung eine Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit herbeigeführt wird. Die Messung der Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit ist komplex und muss nach einer wissenschaftlich anerkannten Methodik erfolgen. Die Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit sollte jedoch mittels Indikatoren überwacht werden, damit sich die praktische Effizienz der Methodik bewerten lässt. …
(21) Die Überwachung der Betäubung auf ihre Wirksamkeit stützt sich hauptsächlich auf die Bewertung des Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögens der Tiere. Das Wahrnehmungsvermögen eines Tieres besteht im Wesentlichen in seiner Fähigkeit, Gefühle zu empfinden und seine Bewegungen zu kontrollieren. Außer in Ausnahmefällen, etwa bei der Elektroimmobilisation oder einer anderen Art der bewusst herbeigeführten Lähmung, ist davon auszugehen, dass ein Tier dann wahrnehmungslos ist, wenn es seine natürliche stehende Haltung verliert, nicht wach ist und keine Anzeichen dafür vorliegen, dass es positive oder negative Gefühle wie Angst oder Aufregung spürt. Das Empfindungsvermögen eines Tieres besteht im Wesentlichen in seiner Fähigkeit, Schmerzen zu fühlen. Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass ein Tier dann empfindungslos ist, wenn es auf Reize wie Schall, Geruch, Licht oder physischen Kontakt nicht reagiert oder keine entsprechenden Reflexe zeigt. …
(43) Bei der Schlachtung ohne Betäubung ist ein präziser Halsschnitt mit einem scharfen Messer erforderlich, damit das Tier nicht so lange leiden muss. Ferner ist bei Tieren, die nach dem Halsschnitt nicht mit mechanischen Mitteln ruhig gestellt werden, zu erwarten, dass sich die Entblutung verlangsamt, wodurch die Tiere unnötigerweise länger leiden müssen. Rinder, Schafe und Ziegen sind die Tierarten, die am häufigsten nach diesem Verfahren geschlachtet werden. Wiederkäuer, die ohne Betäubung geschlachtet werden, sollten daher einzeln und mit mechanischen Mitteln ruhig gestellt werden. …
(57) Die Europäischen Bürger erwarten, dass bei der Schlachtung von Tieren Mindestvorschriften für den Tierschutz eingehalten werden. In bestimmten Bereichen hängt die Einstellung zu Tieren auch von der Wahrnehmung in dem jeweiligen Mitgliedstaat ab, und in einigen Mitgliedstaaten wird die Beibehaltung oder die Annahme umfassenderer Tierschutzvorschriften als die in der [Union] festgelegten gefordert. Im Interesse der Tiere ist es unter der Voraussetzung, dass das Funktionieren des Binnenmarktes nicht beeinträchtigt wird, angebracht, den Mitgliedstaaten eine gewisse Flexibilität einzuräumen, was die Beibehaltung oder in bestimmten spezifischen Bereichen den Erlass umfassenderer nationaler Vorschriften anbelangt.